C. F. W. Walther (1811-1887):

Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.


Zweite Abendvorlesung. (19. September 1884.)

 

So lange, meine Freunde, ein Mensch zwar noch ein Christ sein will, aber eben noch kein Christ ist, so lange ist er ganz wohl damit zufrieden, wenn er nur die christlichen Lehren in ihren äußeren Umrissen weiß. Alles andere gehöre für die Pastoren, für die Theologen, sagt er. Alles, was Gott geoffenbart hat, möglichst klar zu erkennen, dafür hat ein Unchrist kein Interesse. Sobald aber ein Mensch ein Christ wird, so entsteht in ihm ein lebhaftes Verlangen nach der Lehre Christi. Selbst der ungebildetste Bauer, wenn er noch nicht bekehrt war, wacht plötzlich auf, wenn er bekehrt wird, fängt an, nachzudenken über Gott und Himmel, Seligkeit und Verdammniß etc., und beschäftigt sich mit den höchsten Problemen des menschlichen Lebens. Ein Beispiel haben wir an den Juden, welche schaarenweise zu Christo kamen, und ebenso an den Aposteln. Jene Schaar hörte Christum mit großer Freude und sie staunten, daß er gewaltig predigte und nicht wie die Schriftgelehrten; aber bei diesem Wohlgefallen und bei dieser Verwunderung blieb es meistentheils. Anders war es bei den Aposteln, die auch keine gebildeten Leute waren. Sie blieben nicht stehen, sondern sie legten Christo allerlei Fragen vor, und nach einem Gleichniß sagten sie: „HErr, deute uns dieses Gleichniß.“ Ebenso verhielt es sich bei den Beroensern, welche täglich in der Schrift forschten. Sehr wahr sagt daher die Apologie: „Denn gute Gewissen schreien nach der Wahrheit und rechtem Unterricht aus Gottes Wort, und denselbigen ist der Tod nicht so bitter, als bitter ihnen ist, wo sie etwa in einem Stücke zweifeln; darum müssen sie suchen, wo sie Unterricht finden.“ (Müller, S. 191.) Ist es nun aber schon ein nothwendiges Kennzeichen eines gemeinen Christen, daß er nach der Wahrheit strebt, nach göttlicher Gewißheit, so ist das in noch höherem Grade der Fall bei einem Theologen. Ein Theologe ist ja nicht denkbar, der nicht das größte Interesse hat an den christlichen Lehren. Einer, der auch nur den Anfang . . . in seinem Herzen gemacht hat, der achtet keinen Punkt für gering und jede Lehre ist ihm Gold, Silber und Edelgestein. Gebe Gott, daß dies auch bei Ihnen der Fall ist! Dann werden Sie auch nicht satt in diese Stunden kommen, sondern immer wieder fragen: „Was ist Wahrheit?“ – nicht wie Pilatus, sondern wie Maria, die zu JEsu Füßen saß und jedem Worte Christi lauschte. Dann wird auch diese Stunde für Sie von großem Segen (S. 13) sein, so gering auch das Werkzeug ist, dadurch Ihnen die Wahrheit nahe gebracht werden soll. Das Erste ist also, daß Sie bedenken, worin diese beiden Lehren unterschieden sind von einander. Da haben wir gehört, daß Gesetz und Evangelium in sechs verschiedenen Punkten von einander unterschieden sind. Vier davon haben wir schon betrachtet. Lassen Sie uns nun zum fünften Unterschied kommen! Der fünfte Unterschied betrifft die Wirkungen beider Lehren. Worin besteht denn nun die Wirkung des Gesetzes? Es ist eine dreifache. Erstens sagt uns das Gesetz, was wir thun sollen, gibt uns aber keine Kraft dazu, sondern bewirkt vielmehr, daß wir um so unwilliger werden, das Gesetz zu halten. Manche gehen freilich mit dem Gesetz um, wie mit einer arithmetischen Regel. Wenn aber das Gesetz einmal hineinfährt in das Herz, so stemmt das Herz sich gegen Gott; dann wird der Mensch wüthend gegen den Gott, der so etwas Unmögliches von ihm fordert. Ja, er flucht in seinem Herzen Gott, ja, er würde Gott ermorden, wenn er könnte, würde ihn vom Thron stoßen, wenn es ihm möglich wäre. Die Wirkung des Gesetzes ist also, daß die Sündenlust nur noch größer wird. Zweitens deckt das Gesetz dem Menschen seine Sünden auf, zeigt ihm aber keine Hülfe, herauszukommen, und stürzt den Menschen in Verzweiflung. Drittens wirkt das Gesetz zwar Reue, Schrecken vor der Hölle, vor dem Tod, vor dem Zorn Gottes, aber es hat kein Tröpflein Trost für den Sünder. Wenn nichts weiter zu dem Gesetz kommt, so muß der Mensch verzweifeln, sterben und verderben in seinen Sünden. Jetzt, nach dem Fall, kann das Gesetz nichts anderes in dem Menschen wirken. Das bedenken Sie wohl! Sie sehen das aus: Röm. 7,7-9.: „Ich wußte nichts von der Lust, wo das Gesetz nicht hätte gesagt: Laß dich nicht gelüsten. Da nahm aber die Sünde Ursach am Gebot und erregte in mir allerlei Lust. Denn ohne das Gesetz war die Sünde todt. Da aber das Gebot kam, ward die Sünde wieder lebendig.“ Kein Heide weiß, daß die böse Lust im Herzen schon Sünde sei. Die größten Moralisten haben gesagt: „Das ist nicht meine Schuld. Ich kann das nicht helfen, kann es nicht hindern.“ Aber das göttliche Gesetz ruft: „Du sollst nicht begehren! Laß dich nicht gelüsten!“ Ja, wir sollen nicht einmal die Erblust halten. – Wenn einer nicht an das Gesetz denkt, so geht die Sünde bei ihm aus und ein, und er weiß gar nicht, daß er sündigt. Fragen Sie ein Weltkind, so wird das verwundert (S. 14) antworten: „Ich habe nichts Böses gethan. Ich habe niemand todtgeschlagen, habe die Ehe nicht gebrochen, habe keinen Diebstahl begangen“ etc. Er merkt es gar nicht, wenn die Sünde bei ihm aus- und eingeht. Aber wenn das Gesetz wie ein Blitz in ihn fährt, da erkennt er, was für ein großer Sünder er ist, welche schrecklichen, gottlosen Gedanken er hat. Darum sagt der Apostel: „Die Sünde ward wieder lebendig“, als das Gesetz kam. Das Gesetz deckt die Sünde auf, gibt uns aber keinen Trost. Wenn wir nur das Gesetz hätten, wie wir es jetzt haben, und weiter nichts, so müßten wir ewig verloren gehen und zur Hölle fahren. Die Strafen und der Fluch des göttlichen Gesetzes werden erst gefühlt werden in der Hölle; denn das Gesetz muß erfüllt werden, es muß seine göttliche Autorität behalten. 2 Cor. 3,6.: „Der Buchstabe tödtet.“ Der Apostel nennt das Gesetz den Buchstaben, weil Gott es mit Buchstaben in die steinernen Tafeln geschrieben hat. Selbst Heiden haben erkannt, daß das Gesetz das Gegentheil wirkt von dem, was es gebietet. Ohne Zweifel ist Ihnen der Ausspruch des unflätigen Dichters Ovid bekannt: „Nitimur in vetitum semper cupimusque negata.“ Er war selbst ein Schwein und da sagt er das gerade heraus, sagt: „Seht, so mache ich es; ich thue immer das, was andere für verboten halten.“ Als die Israeliten die zehn Gebote am Berg Sinai bekamen, da erzitterte alles. Wie die Natur sich zeigte, so sah es auch in den Herzen aus. Da wollte Gott schon im Voraus zeigen: „Seht, das ist des Gesetzes Wirkung.“ Daher lesen wir auch von jenem reichen Jüngling, der zu Christo kam und fragte, wie er könnte selig werden, und der so starrblind war, daß er sein sündliches Verderben gar nicht erkannte: „Er ging traurig von dannen.“ Christus durfte bei diesem Jüngling noch nicht mit dem Evangelium kommen, sondern er mußte ihn erst überzeugen, daß er ja das Gesetz gar nicht erfüllen könnte. Dann lesen wir von dem Landpfleger Felix, als Paulus ihm predigte von der Gerechtigkeit und von der Keuschheit und vom Gericht, daß er da erschrak und sagte: „Gehe hin auf diesmal; wenn ich gelegene Zeit habe, will ich dich her lassen rufen.“ Aber er ließ den Paulus nicht wieder rufen, denn er wollte den Donner und Blitz des Gesetzes los sein. Und nach jener Gesetzespredigt des Petrus am ersten Pfingstfest heißt es: „Da ging es ihnen durchs Herz.“ Aber sie fragten dann: „Ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir thun?“ – nämlich „daß wir selig werden“. Da antwortete ihnen dann Petrus: „Thut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen JEsu Christi, zur Vergebung der Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes.“ (S. 15) Ganz anderer Art nun sind die Wirkungen des Evangeliums. Die Wirkungen desselben bestehen darin, daß es erstens den Glauben fordert, aber in der Forderung ihn schenkt und gibt. Wenn wir predigen: „Glaubet doch an den HErrn JEsum Christum!“ so gibt Gott durch uns den Leuten den Glauben. Wir predigen den Glauben und wer nicht muthwillig widerstrebt, der bekommt den Glauben. Der bloße äußere Schall des Wortes thut es freilich nicht, sondern der Inhalt des Wortes. Die andere Wirkung des Evangeliums ist die, daß es den Sünder gar nicht straft, sondern alle Schrecken, alle Furcht, alle Angst wegnimmt und ihn mit Friede und Freude im Heiligen Geist erfüllt. Wie der verlorne Sohn wieder nach Hause kommt, da thut der Vater auch nicht mit einem Wort Erwähnung seines schrecklichen, schändlichen Wandels; nichts, nichts sagt der Vater davon, sondern er fällt dem verlornen Sohn um den Hals und küßt ihn und bereitet ihm ein herrliches Mahl. Das ist ein herrliches Gleichniß, welches uns zeigt, was das Evangelium wirkt, Es nimmt alle Unruhe hinweg und erfüllt uns mit seligem, himmlischem Frieden. Drittens fordert das Evangelium gar nichts Gutes vom Menschen, kein gutes Herz, keinen guten Willen, keine Besserung, keine Frömmigkeit, keine Liebe weder zu Gott noch zu den Menschen. Nichts gebietet es, aber es verändert den Menschen, pflanzt die Liebe in das Herz und macht den Menschen fähig zu allen guten Werken. Es fordert nichts, sondern es gibt alles. O, möchten wir nicht hüpfen und springen? Diese Wirkungen des Evangeliums werden uns Apost. 16 an dem Kerkermeister von Philippi vor Augen gestellt. Als Paulus und Silas demselben auf seine Frage: „Liebe Herren, was soll ich thun, daß ich selig werde?“ geantwortet hatten: „Glaube an den HErrn JEsum Christum, so wirst du und dein Haus selig“, da spricht er nicht erst: „Ja, wie soll ich denn das anfangen?“ Nein, er glaubt, denn diese Worte haben ihm den Glauben in das Herz hineingeredet. Es heißt gleich von ihm: „Er freuete sich mit seinem ganzen Hause, daß er an Gott gläubig geworden war.“ Da sehen Sie: das Evangelium gibt den Glauben, den es fordert; in der Forderung des Glaubens liegt nichts Gesetzliches, sondern das ist eine Liebesforderung Röm. 1,16.: „Ich schäme mich des Evangelii von Christo nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben.“ Da ist von etwas Herrlichem die Rede. Denn wenn das Evangelium die ewige Seligkeit gibt, was kann es denn Herrlicheres, Schöneres, Seligeres, Köstlicheres geben? (S. 16) Eph. 2,8-10.: „Denn aus Gnaden seid ihr selig geworden, durch den Glauben; und dasselbige nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus den Werken, auf daß sich nicht jemand rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christo JEsu zu guten Werken, zu welchen Gott uns zuvor bereitet hat, daß wir darinnen wandeln sollen.“ An dieser Stelle wird das Evangelium kurz nach seinen Wirkungen beschrieben. Das Evangelium sagt nicht: „Du mußt gute Werke thun“, sondern es macht mich zu einem solchen Menschen, zu einer solchen Creatur, die gar nicht anders kann, als Gott und dem Nächsten dienen. O, eine köstliche Wirkung! Gal. 3,2.: „Das will ich allein von euch lernen: Habt ihr den Geist empfangen durch des Gesetzes Werke oder durch die Predigt vom Glauben?“ Sie mußten wohl auf diese Frage antworten: „Durch die Predigt vom Glauben haben wir ein neues Herz bekommen; denn vorher konnten wir nichts Gutes thun. Wir sind geschaffen zu einer neuen Creatur.“ Wie man es der Sonne nicht zu sagen braucht, daß sie leuchten soll, so ist es ganz verlorne Mühe, bei einer solchen Creatur zu sagen: „Du mußt das und das thun.“ Gesetz und Evangelium sind nun endlich sechstens verschieden in Absicht auf die Personen, denen beides gepredigt werden soll. Es ist also eine Verschiedenheit in den Objecten. Das subjectum operationis und der finis cui ist bei beiden Lehren ein ganz verschiedener. Das Gesetz soll den sicheren Sündern gepredigt werden und das Evangelium den erschrockenen Sündern. Sonst muß zwar beides gepredigt werden, aber es fragt sich: Welches sind die Personen, denen das Gesetz gepredigt werden soll und nicht das Evangelium? und umgekehrt. 1 Tim. 1,8-10.: „Wir wissen, daß das Gesetz gut ist, so sein jemand recht braucht, und weiß solches, daß dein Gerechten kein Gesetz gegeben ist, sondern den Ungerechten und Ungehorsamen, den Gottlosen und Sündern, den Unheiligen und Ungeistlichen, den Vatermördern und Muttermördern, den Todtschlägern, den Hurern, den Knabenschändern, den Menschendieben, den Lügnern, den Meineidigen, und so etwas mehr der heilsamen Lehre wider ist.“ Diesen allen soll also nur das Gesetz gepredigt werden und kein Tröpflein Evangeliums. So lange es einem Menschen noch wohl ist in seinen Sünden, so lange er die und die Sünde noch nicht lassen will, so lange soll ihm nur das verfluchende und verdammende Gesetz gepredigt werden. Aber sobald er erschrickt, dann flugs das Evangelium, denn der gehört dann nicht mehr zu den sicheren Sündern. So lange dich also der Teufel noch in einer Sünde hält, so lange bist du noch kein subjectum operationis des Evangeliums, sondern des Gesetzes. (S. 17) Jes. 61,1-6.: „Der Geist des HErrn ist über mir, darum hat mich der HErr gesalbet. Er hat mich gesandt, den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden; zu predigen den Gefangenen eine Erledigung, den Gebundenen eine Oeffnung, zu predigen ein gnädiges Jahr des HErrn und einen Tag der Rache unsers Gottes; zu trösten alle Traurigen; zu schaffen den Traurigen zu Zion, daß ihnen Schmuck für Asche und Freudenöl für Traurigkeit, und schöne Kleider für einen betrübten Geist gegeben werden.“ Der „Tag der Rache unsers Gottes“ ist das Gericht, welches Gott hinausführen wollte über die Hölle und über den Teufel. Und was für eine herrlichere Botschaft kann es geben? Der Teufel hat das menschliche Geschlecht greulich entstellt und in tiefes Elend gestürzt. Das hat Christus dann gerochen. Christus hat dem Teufel verkündigt: „Ich habe über dich gesiegt und die nach meinem Ebenbild geschaffenen Menschen sollen nicht verloren gehen. Ich habe ihnen das Heil erworben.“ Nur die durchaus nicht selig werden wollen, gehen verloren, denn Gott zwingt niemand. Solchen armen, traurigen Sündern soll nun wiederum nicht ein Wörtlein des Gesetzes gepredigt werden. Wehe einem solchen Prediger, der einem solchen schmachtenden Sünder noch Gesetz predigt! Der Prediger muß zu einem solchen vielmehr sagen: „Komm nur! Es ist noch Raum! Und wenn du ein noch so großer Sünder wärest, es ist noch Raum! Und wenn du ein Judas wärest, und wenn du ein Kain wärest, es ist noch Raum, o, komm nur zu JEsu!“ Solche Menschen sind das subjectum operationis des Evangeliums. Hören Sie nun eine Stelle aus Luthers „Sermon vom Unterschied zwischen dem Gesetz und Evangelio“. Er schreibt (W. IX, 416ff.): „Durchs Gesetz soll anders nichts verstanden werden, denn Gottes Wort und Gebot, darin er uns gebeut, was wir thun und lassen sollen, und unsern Gehorsam und Werk von uns fordert. Solches ist leicht zu verstehen in causa formali, aber in causa finali sehr schwer. Die Gesetze aber oder Gebote, so von Werken reden, die Gott von einem jeden insonderheit, nach Natur, Stand, Amt, Zeit und andern Umständen mehr fordert, sind mancherlei. Daher sie auch einem jeden Menschen sagen, was ihm Gott seiner Natur und Amte nach aufgelegt hat und von ihm fordert; als das Weib soll der Kinder warten, den Hauswirth regieren lassen etc. Das ist ihr Gebot. Ein Knecht soll seinem Herrn gehorsam sein, und was mehr zu eines Knechts Amt gehört. Gleicher Weise hat eine Magd auch ihren Befehl. Das gemeine Gesetz aber, das uns Menschen alle betrifft, ist dies, Matth. 22,39.: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, ihm in seiner Noth, wie die vorfällt, rathen und helfen; hungert (S. 18) ihn, so speise ihn; ist er nackt, so kleide ihn, und was desgleichen mehr ist. Das heißt das Gesetz recht abzirkeln, und vom Evangelio abmessen, nämlich, daß das Gesetz heiße und sei, welches auf unsere Werke dringt. Dagegen das Evangelium oder der Glaube ist solche Lehre oder Wort Gottes, das nicht unsere Werke fordert, noch gebeut uns, etwas zu thun, sondern heißt uns die angebotene Gnade von Vergebung der Sünden und ewiger Seligkeit schlecht annehmen und uns schenken lassen. Da thun wir ja nichts, sondern empfahen nur und lassen uns geben, was uns durchs Wort geschenkt und dargeboten wird, daß Gott verheißt und dir sagen läßt: Dies und das schenke ich dir etc. Als in der Taufe, die ich nicht gemacht, noch mein Werk, sondern Gottes Wort und Werk ist, spricht er zu mir: Halt her, ich taufe dich, und wasche dich von allen deinen Sünden; nimm sie an, sie soll dein sein. Wenn du dich nun so taufen lässest, was thust du mehr, denn daß du solch Gnadengeschenk empfähest und annimmst? So ist nun der Unterschied des Gesetzes und Evangelii dieser: Durch das Gesetz wird gefordert, was wir thun sollen, dringt auf unser Werk gegen Gott und den Nächsten; im Evangelio aber werden wir zur Spende oder zum reichen Almosen gefordert, da wir nehmen und empfahen sollen Gottes Huld und ewige Seligkeit. Dieser Unterschied ist leichtlich hieraus zu merken: Das Evangelium beut uns an Gottes Gabe und Geschenk, Hülfe oder Heil, heißt uns nur den Sack herhalten und uns lassen geben; das Gesetz aber gibt nichts, sondern nimmt und fordert von uns. Nun sind je die zwei, geben und nehmen, sehr weit von einander geschieden. Denn wenn mir etwas geschenkt wird, so thue ich nichts dazu, sondern nehme und empfahe es, und lasse mir es geben. Wiederum, wenn ich in meinem Beruf ausrichte, was mir befohlen ist, item, rathe und helfe meinem Nächsten, so empfahe ich nichts, sondern gebe einem andern, dem ich diene. Also wird das Gesetz und Evangelium formali causa unterschieden; dieses verheißt, das andere gebeut. Evangelium gibt und heißt nehmen; Gesetz fordert und sagt: Das sollst du thun.“ Wir sehen, Luther entwickelt diese Lehre nicht wissenschaftlich, sondern er bezeugte diese Lehre wie ein Prophet. Daher machte er einen so großen Eindruck. Hätte er ein lateinisches, wissenschaftliches Werk geschrieben hierüber mit A, a, a, aleph, b, a, aleph, c, a, aleph, B, a etc. systematisch eingetheilt, so hätten die Leute gedacht: „Das ist ja ein grundgelehrter Mann“, aber es hätte keinen solchen Eindruck gemacht. In den Kirchenvätern finden wir fast gar nichts von diesem Unterschied des Gesetzes und Evangeliums. (S. 19)


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