C. F. W. Walther (1811-1887):

Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.


Neunundzwanzigste Abendvorlesung (29. Mai 1885.)

 

Es ist ohne Zweifel ein höchst merkwürdiges, aber auch höchst erschreckliches Wort, welches einst Christus, Offenb. 3,15.16., an den Bischof der Gemeinde zu Laodicea richtete, jenes Wort nämlich: „Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“ Hieraus sehen wir, nach Gottes unfehlbarem Urtheil ist es schlimmer, ein lauer, als ein kalter Prediger zu sein, schlimmer, wenn ein Prediger träge und gleichgültig ist und sein Amt wie eine Profession betreibt zum Broderwerb, als wenn er offenbar gottlos ist. Denn lehrt und lebt ein Prediger zwar nicht offenbar unchristlich, ist jedoch schläfrig, ohne allen Ernst und Eifer für Gottes Reich und das Heil der Seelen, so wirkt das nichts anderes, als daß selbst die armen Seelen davon angesteckt werden und daß die ganze Gemeinde endlich in geistlichen Schlaf eingewiegt wird. Hingegen wenn ein Prediger (S. 296) offenbar gottlos lebt und lehrt, so folgen ihm die guten Seelen nicht, sondern sie wenden sich ab von ihm mit Abscheu. Aber obgleich nun die Lauigkeit eines Predigers der Kirche viel größeren Schaden thut als offenbare Gottlosigkeit eines Predigers, so werden doch beide einst ein und dasselbe Urtheil empfangen. Sowohl der Laue als der Kalte wird jenes Wort hören: „Ich habe euch noch nie erkannt! Weichet alle von mir, ihr Uebelthäter!“ Wer dagegen wirklich ein treuer Diener JEsu Christi ist, wird einst das unaussprechlich fröhliche Wort hören: „Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über Wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen. Gehe ein zu deines HErrn Freude!“ Er darf nicht nur nicht lau oder kalt sein, sondern er muß warm sein. Sein Herz muß brennen vor Liebe zu JEsu, seinem Heiland, und dessen Gemeinde, die ihm anvertraut worden ist, so daß er nun auch mit Paulus und allen Aposteln sagen kann, 2 Cor. 5,13.: „Thun wir zu viel, so thun wir’s Gotte.“ Ein merkwürdiger Ausspruch! Er sagt uns: Ein Prediger soll einen größeren Ernst und Eifer beweisen, als vielleicht die meisten in seiner Gemeinde wünschen und billigen. Der Apostel will sagen, er habe in seinem Amt nicht geeifert mit Unverstand, sondern er habe mehr geeifert, als die Corinther haben wollten. Und ein jeder rechte Prediger und Diener JEsu Christi beweist Eifer und Ernst, wenn es ihm auch nichts weiter einträgt, als daß er in seiner Gemeinde unbeliebt wird, ja, daß er sich wohl gar bitteren Haß und Feindschaft zuzieht. Ein rechter Prediger wird das lieber erfahren, als daß er durch Verschweigung, Verhüllung oder Abstumpfung der scharfen Wahrheit jedermann für sich gewinne. Also, meine Freunde, es ist nicht zu leugnen: einem Prediger, und zwar gerade einem recht eifrigen Prediger, muß es ein Ernst sein mit seinem Predigtamt. Sonst versündigt er sich schwer. Er kann sich aber auch dadurch schwer versündigen, daß er in der Darstellung des Christenthums und in den Forderungen, die an den Christen zu stellen sind, über das Wort Gottes hinausgeht. Und das ist es, was uns auf die siebzehnte Thesis führt.

 

Thesis XVII.

Gottes Wort wird dreizehntens nicht recht getheilt, wenn man die Gläubigen so beschreibt, wie sie nicht alle und nicht immer sind, sowohl was Stärke des Glaubens, als was das Gefühl und die Fruchtbarkeit desselben betrifft.

 

In diesen Fehler fallen sonderlich häufig junge Prediger, die noch wenig Erfahrung haben. Sie wollen Eindruck machen, sie wollen die (S. 297) Leute aus ihrer natürlichen Sicherheit aufwecken. So meinen sie, sie könnten von denjenigen, welche Christen sind, nicht genug fordern, damit ja kein Heuchler sich für einen Christen halte. Aber hier gilt es, nicht weiter zu gehen, als Gottes Wort, sonst kann ein Prediger durch diesen Eifer den Seelen erschrecklichen Schaden anthun. Ach, die Christen sind vielfach ganz anders, als sie in der Predigt dargestellt werden, und zwar bona fide. Man will die Leute erwecken und warnen vor Selbstbetrug. Aber das ist nicht das letzte Ziel, sondern daß man seine Zuhörer zur Gewißheit bringt, daß sie Vergebung ihrer Sünden bei Gott haben, daß sie die Hoffnung des zukünftigen Lebens haben, daß sie getrost können dem Tode entgegengehen. Wer das nicht zu seinem letzten Ziel macht, der ist kein evangelischer Prediger. Darum muß er sich um Gotteswillen in Acht nehmen und nicht sagen: „Wer das und das thut, ist kein Christi, wenn er nicht ganz gewiß weiß: „Das kann kein Christ sein, der das thut.“ Ein Christ handelt oft sehr unchristlich. Röm. 7,18.: „Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, wohnet nichts Gutes. Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht.“ – Hier beschreibt der Apostel ja offenbar einen Christen. Denn wie einer ein Christ wird, hat er vorher gesagt, und dann zeigt er auch, wie ein Christ wandeln soll. Nun kommt er auf die Lehre von der Anfechtung, in der die Christen so häufig stecken, damit sie Trost haben, und da beschreibt er den Christen als einen, der aus zwei Theilen besteht. Er sagt, daß der wahre Christ immer das Gute will, aber sehr häufig vollbringt er es nicht. Wenn ein Prediger also den Christen so hinstellt, als ob er den wahren, guten Willen nicht habe, wenn er das Gute nicht alles thut, der stellt ihn ganz unbiblisch dar. Nein, die Hauptsache ist, daß einer das Gute will. Dabei kann es ihm häufig widerfahren, daß es beim guten Willen bleibt. Ehe er es sich versieht, hat er sich verirrt, ist die Sünde herausgebrochen und er schämt sich vor sich selbst. Deswegen ist er noch lange nicht aus der Gnade gefallen. Röm. 7,14.: „Denn wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist; ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft.“ – Paulus will sagen: „Wie gerne möchte ich von der Sünde los sein! Aber ich bin wie einer, der an einen Herrn verkauft ist. Er kann ihm nicht entkommen, muß immer noch unter seiner Tyrannei liegen.“ So ist es auch mit einem Christen. Der fühlt sich wie ein Sclave, nur daß er nicht gerne gehorcht, wie ein christlicher Sclave seinem Herrn gehorchen muß, sondern er gehorcht mit dem höchsten Widerstreben. Und dann ruft der Apostel aus, V. 24.: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ Merken Sie sich das wohl zu Ihrem eige- (S. 298) nen Trost, dann aber auch, wenn Sie eine Gemeinde bekommen; daß Sie ihr diesen Trost auch reichlich vortragen. Das ist namentlich die Krankheit unsrer Zeit, daß die Christen ihrer Sache nicht gewiß sind, weil sie keine gewisse Lehre bekommen. Wenn aber einem Christen gezeigt wird, was er ist und was für ein elender, miserabler Sünder er ist, da hält er fest an Christo, läßt sich nicht gleich vom Teufel einreden: „Du bist wie der aus der Gnade gefallen, du hast wieder Gott verloren!“ Phil. 3,12.: „Nicht, daß ich es schon ergriffen habe, oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo JEsu ergriffen bin.“ Es ist ein Nachjagen in diesem Leben, aber kein Erlangen. Und es kann wohl einem Christen so vorkommen, als hätte es Zeiten gegeben, da wäre er heiliger gewesen, da hätte er die Sünde besser überwinden können, aber es ist da entweder in der That so, daß er wirklich einmal zurückgegangen ist, oder er merkt jetzt viel deutlicher, was er für ein gebrechlicher Mensch ist. Ein junger Christ denkt wohl: „Mein Herz ist jetzt ganz rein; die Welt liegt hinter mir, in mir ist der Himmel!“ Aber er weiß noch nicht, was für böse Thiere dahinter lauern. Wenn aber das süße Zuckerbrod aufhört und es kommen Anfechtungen, dann meint er: „Ich kann jetzt gar nicht mehr so gegen die Sünde kämpfen.“ Er wird aber viel stärker angefochten als früher und er merkt die sündlichen Regungen eher. Gal. 5,17.: „Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist, und den Geist wider das Fleisch. Dieselbigen sind wider einander, daß ihr nicht thut, was ihr wollt.“ – Also darf ein Prediger den nicht zu einem Unchristen machen, der nicht alles thut, was er soll, wenn er nur dabei bleibt, daß er es nicht will. Wenn er die Sünde nur aus Schwachheit, nur aus Uebereilung thut, so kann er doch ein Christ sein. Jac. 3,2.: „Denn wir fehlen alle mannigfaltiglich. Wer aber auch in keinem Worte fehlet, der ist ein vollkommener Mann, und kann auch den ganzen Leib im Zaum halten.“ – Er will sagen: „Einen Vollkommenen gibt es eben nicht.“ Er rechnet sich selbst dazu, alle Apostel und Heiligen, denn er sagt: „Wir.“ Nicht bloß in Gedanken, Begierden, Geberden und Worten sündigt der Christ, sondern auch in Werken, so daß es jedermann und auch die Welt sehen kann, daß wir noch gar arme, schwache Menschen sind. Hebr. 12,1.: „Darum auch wir, dieweil wir solchen Haufen Zeugen um uns haben, lasset uns ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht, und lasset uns laufen durch Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist.“ Der Christ legt also die Sünde immer ab, aber sie klebt ihm immer noch an. Er kann sie nicht herauskriegen aus seiner Seele, und sie macht ihn auch so gar träge. Er würde ganz anders wandeln, er (S. 299) würde fröhlich in seinem Gott als ein Held wandeln, wenn er nicht das böse Fleisch in seinem Innern trüge. Jes. 64,6.: „Aber nun sind wir allesammt wie die Unreinen, und alle unsere Gerechtigkeit wie ein unfläthig Kleid. Wir sind alle verwelket wie die Blätter; und unsere Sünden führen uns dahin wie ein Wind.“ Der Prophet sagt nicht: „Alle Gerechtigkeit des natürlichen Menschen ist wie ein unfläthig Kleid“, nein: „alle unsere Gerechtigkeit.“ Also muß vor Gottes Augen auch das Leben eines wahren Christen nicht gerade schön aussehen. Und wenn Gott nicht den Mantel der Gerechtigkeit Christi über uns breitete, so müßten wir, auch wenn wir wahre Christen geworden sind, ewig verdammt und verloren sein. Hiob 14,4.: „Wer will einen Reinen finden bei denen, da keiner rein ist?“ Ps. 32,6.: „Dafür werden dich alle Heiligen bitten zur rechten Zeit.“ Gerade vorher ist von der Vergebung der Sünden die Rede. Und um Vergebung ihrer Sünden haben gerade die rechten Heiligen alle Tage nöthig zu bitten. Und was wollen wir erst lange in der Schrift herumsuchen? Der Heiland hat allen Christen geboten, täglich im Vaterunser zu beten: „Vergib uns unsere Schuld.“ Also muß jeder neue Tag auch neue Schuld auf unser Herz und Gewissen bringen. Wer nun den Christen hinstellt als einen Vollkommenen – nicht wie die Methodisten, man kann das auch individuell thun – wer ihn so hinstellt, wie er nicht ist, oder wie nicht alle Christen sind, der malt den Christen falsch ab und thut unendlichen Schaden. Denn gerade das allerzarteste Gewissen denkt dann: „Ach, ich bin kein Christ! Ich habe es oft gedacht und heute hat mir der Prediger gesagt: Du bist kein Christ!“ Und kein Mensch kann es vielleicht aus dem Herzen eines solchen Christen wieder herausbringen. Er plagt sich bis an seinen Tod, daß er nicht wieder in solche Sünden falle, und er fällt doch immer wieder. Darum soll der Prediger das rechte Mittel geben, daß die Christen, wenn sie sündigen, schnell wieder aufstehen – es müßte denn eine muthwillige Sünde sein, die treibt den Heiligen Geist aus dem Herzen. Aber ein Christ merkt das gleich, wenn er in Gefahr steht, und er fühlt gleich den Drang: Geh schnell zu deinem himmlischen Vater, bitte es ihm ab um Christi willen, er soll es dir vergeben!“ Und er merkt es auch bald in seinem Innern: „Ja, Gott hat dir vergeben, was du gesündigt hast“, oder wenn er es auch nicht fühlt, denkt er doch:

 

„Ei, wie will ich auf ihn trauen,

Bis ich komme ihn zu schauen,

Bis er mit mir Hochzeit hält!“

 

(S. 300) Manche beschreiben den Christen so, als ob er in lauter süßen Gefühlen lebte. Das ist auch häufig der Fall in Ihren Predigten. Da sagen Sie: „Ja, ein Unchrist ist ein unglücklicher Mensch! So lange er der Welt und der Sünde dient, wird er wie von Furien gejagt.“ Das ist gar nicht wahr. Wie manche Unchristen gehen dahin, ohne Gewissensbisse zu bekommen. „Aber“, sagen Sie – „ein Christ, ach, was für ein glückseliger Mensch ist das! Er ist frei von aller Angst, frei von Zweifel“ etc. Das ist alles nicht wahr. Tausende und Abertausende von Christen haben viel mehr Angst und Zagen in sich, haben fort und fort mit sich zu kämpfen und sprechen: „O, ich unglückseliger Mensch!“ Sie mögen immer solche Themata behandeln: „Wie selig ein Christ ist“, und dergleichen, aber merken Sie wohl: die Seligkeit besteht nicht darin, daß er lauter süße Gefühle hat, sondern bei dem bittersten Gefühl kann er sagen: „Ach, mein Gott, du nimmst mich doch an! Und wenn ich jetzt sterbe, so nimmst du mich in deinen Himmel auf!“ Das ist ja freilich eine große Seligkeit. – Also Sie können das leicht versehen, ohne daß Sie es merken. Sie müssen immer denken: „Ich will nichts gegen die christliche Erfahrung reden.“ Und da müssen Sie in Ihr eigenes Innere gehen und denken: „Wenn ich da unten säße und ein anderer predigte das, wie würde es mir da angst werden, wie würde ich da bei der Frage: „Bin ich denn ein Christ?“ antworten müssen: „Nein!““ Ist es nicht schrecklich, wenn ich eine Predigt mache, durch die ich mich selbst verurtheile? Wenn ich denken muß: „Ja, wenn mir das einer predigte, so würde ich zum Tode erschrecken, wenn ich nicht die rechte Erkenntniß hätte!“ Es ist freilich gut, daß man auch solche Zustände recht ausmalt, wie ein Christ zuweilen einen Vorschmack der ewigen Seligkeit hat, aber das sind nur Augenblicke in dem Leben eines Christen, das sind Sonnenstrahlen, die zuweilen in sein Herz fallen. Schildert man aber diese seligen Augenblicke auf rechte Weise, dann ist es nicht Angst und Noth, die man erzeugt, nicht Zweifel, ob man ein Christ ist, sondern eine innige Sehnsucht: „Ach, wenn ich das doch auch einmal erführe!“ Und das erfahren sonderlich die, welche recht treu gekämpft haben. Sie haben am Boden gelegen und gemeint, es wäre alles aus – da hat der liebe Gott sie mit solcher himmlischen Freude übergossen, da meinten sie, sie seien nicht mehr auf Erden, sondern schon im Himmel. Dann müssen Sie bedenken, daß ein Christ auch nach seiner Bekehrung sein Temperament behält. Wer ein zorniges Temperament hat, der behält das, und es geschieht, daß er auch oft davon überwunden wird. Also darf man nicht sagen: „Ein Christ wird aus einem Bären ein Lamm in dem Sinn, daß er sich schmähen und schelten läßt von jedermann (S. 301) und seinen Mitmenschen sogleich vergibt.“ Nein, ein Christ hat oft große Noth mit seinem zornigen Temperament, und es bricht auch wirklich heraus. Es kann auch sein, er wird so zornig, daß man ihn nicht stillen kann. Warum? Das Temperament hat ihn jetzt in seiner Gewalt. Da darf man nicht denken: „Wenn der heute Abend stirbt, so fährt er in die Hölle.“ Während der richterische Christ so denkt, so liegt der andere vielleicht in seinem Kämmerlein auf seinen Knieen und fleht: „Der schändliche Zorn soll mich nicht wieder unterkriegen! Ach Gott, vergib es mir doch!“ Ist es dann nicht schändlich, wenn man so lieblos urtheilt? Am andern Morgen kommt er vielleicht und sagt: „Verzeihe es mir doch, daß ich mich gestern so habe hinreißen lassen. Es thut mir von Herzen leid!“ Häufig wird der Christ auch so geduldig wie Hiob dargestellt. Man sagt: „Einem Christen mag alles weggenommen werden, er spricht fröhlich: „Der HErr hat’s gegeben, der HErr hat’s genommen, der Name des HErrn sei gelobt!““ Und der Prediger denkt: „Das ist ganz biblisch!“ Ja, Hiob hat so gesagt, aber nicht alle Christen. Wenn du das in der Predigt sagst, so hast du schändlich gelogen. Wie mancher Christ fängt an ungeduldig zu werden, wenn es ihm übel geht! Oft bei den geringfügigsten und kleinsten Dingen wird einer so ungeduldig, daß er gleich möchte alles zerreißen. Aber nachher kommt er zum Bewußtsein und schämt sich. Das ist nicht das Zeichen eines Christen, daß er kein grober Sünder wäre! Er ist manchmal ein sehr grober Sünder, aber er unterwirft sich dem Worte Gottes unbedingt, wenn auch nicht gleich. Er kann vielleicht vom Teufel erst verblendet werden, daß er denkt, er habe recht gethan, bis er endlich sieht: „Ich habe doch Unrecht! So steht ja in Gottes Wort!“ – und bittet demüthig um Vergebung, während ein Heuchler dabei bleibt, so lange er kann: „Ich habe doch recht gethan!“ Viele predigen vom wahren Christen so, als habe er gar keine Todesfurcht. Das ist aber ganz erschrecklich. Die allermeisten Christen fürchten sich vor dem Tode. Das ist eine besondere Gnade, wenn einer sich gar nicht vor dem Tode fürchtet und denkt: „Komme der Tod heute oder morgen, ich bin bereit.“ Und schon manchmal hat einer so geredet – da sagt der Arzt: „Den heutigen Abend wirst du nicht mehr überleben!“ und da kommt eine furchtbare Angst über ihn. Das ist eine besondere Gabe Gottes, wenn einer keine Todesfurcht hat. Malen Sie das Bild eines Christen um Gotteswillen nicht falsch und fragen Sie sich, ob Sie in dem Bild, das Sie entworfen haben, sich selbst wiedererkennen! – Selbst Hochmuth kann an einem Christen gar stark herausbrechen, der doch eins der allerschändlichsten Laster ist, denn (S. 302) er ist eine Uebertretung des ersten Gebots. Aber wir sind von Natur alle hochmüthig. Der eine ist mehr dazu geneigt als der andre. Wer ein cholerisches Temperament hat, einen sogenannten starken Willen, große Energie, traut sich in der Regel viel zu. Er will dann auch, daß jedermann die größte Reverenz vor ihm habe. Das ist der schändlichste Hochmuth! Und doch kommt er bei wahren Christen vor. Man sehe sich nur die Jünger des HErrn an! Die streiten sich darüber, wer wohl einst der Größte sein wird. Es wäre unglaublich, wenn es nicht in der Bibel stände, daß sich die Apostel da herumstreiten wie kleine Kinder: „Ich bin der Größte!“ – „Nein, ich bin der Größte!“ Ja, die Mutter der Kinder Zebedäi war so naiv und sagte zum HErrn, er sollte einen ihrer Söhne zu seiner Rechten und einen zu seiner Linken stellen. Daß die Jünger aber wußten, daß die Sache nicht ganz richtig war, sieht man aus der Erzählung des Lucas. Sie wußten wohl, sie hatten sich greulich versündigt. Und als der HErr sie zurechtwies, wollten sie lieber vor Scham in den Boden sinken. Sehr falsch und verkehrt ist es ferner, wenn man so redet, als ob der Christ immer so brünstig wäre zum Gebet, als wäre das immer seine liebste Beschäftigung. Ach nein, es kostet einem Christen viel Kampf, ehe er tüchtig und brünstig wird zum Gebet und glaubt, daß er das wirklich erlangen werde, was er von Gott bittet! Wie oft ist er zerstreut, redet die Worte zu Gott und denkt an den und jenen! Daher das Vaterunser der größte Märtyrer genannt wird. Das passirt auch wahren Christen. Wer freilich in der Regel das Vaterunser nur herplappert und gar nicht weiß, was er gesagt hat, der ist wahrlich auch kein Christ. Wenn ein Christ das merkt, wie unandächtig er gebetet hat, so demüthigt er sich aufs tiefste und fängt gleich das Vaterunser wieder von vorne an. Aber Fleisch und Blut behalten wir. Es kommen freilich Zeiten, wo Fleisch und Blut sehr zurückgedrängt ist, wo es uns vorkommt, als wären wir im Himmel, wo es uns ist, wenn wir mit Gott sprechen, als wollten wir zerschmelzen. Auch selbst das Reichwerdenwollen stellt sich oft bei wahren Christen ein, und wenn sie nicht gewarnt und ermahnt würden, würden sie verloren gehen und wie an einem Strick in die Verdammniß gezogen werden. Besonders Kaufleute sind in einer sehr großen Gefahr, geizige Leute zu werden. Es kommt darauf an, ob einer Gottes Wort lieb hat, ob einer seinen Heiland lieb hat und nicht ein verstockt, lästerlich Leben führt. Es gibt solche, die dadurch zeigen wollen, daß sie große Heilige sind, daß sie fast gar nichts reden, immer die Augen gen Himmel schlagen; wenn sie etwas (S. 303) reden, so muß es Gottes Wort sein; wenn sie nichts thun, so lesen sie in der Schrift, so ziehen sie sich ganz zurück, daß jedermann denkt: „Das ist aber ein guter Christ!“ So ging es dem guten Melanchthon mit den himmlischen Propheten. Aber man soll nicht denken, daß das nur wahre Christen sind, die einen solchen frommen Schein haben. Ich sage nicht, daß ein jeder von denen ein Unchrist ist; wen das aber ganz einnimmt, der ist gewiß ein elender Heuchler. Lesen Sie die Evangelisten! Achten Sie darauf, wie die Jünger mit dem HErrn geredet haben und umgegangen sind! Die sind mit der Sprache herausgegangen. Und noch dazu Johannes, der Liebesjünger! Christus nennt sie nun nicht gleich unbekehrte Leute, sondern läßt sie bekehrt sein und behandelt sie als solche, die aber noch einen tüchtigen alten Adam an sich haben. Sie können sagen, was manche starke Christen thun, was besonders treue Christen thun. Das schadet nichts, wenn einer auch denkt: „So treu bist du nicht!“ Das gibt einen gewaltigen Anstoß für solche, die noch nicht so weit sind. Das haben Sie sich auch zu merken bei der Aufnahme neuer Gemeindeglieder. Sie dürfen nicht denken, wenn Sie ein Gespräch mit einem halten und er fängt nicht gleich ein religiöses Gespräch an: „Das ist aber ein gottloser, unbekehrter Mensch!“ Nein, manche halten ihren Heiland fest, aber sie können nicht darüber reden, obwohl sie vielleicht sonst ein gutes Mundwerk haben. Einer kann vielleicht auch sehr wenig Erfahrung im Geistlichen haben, daß er auch nicht viel davon zu erzählen weiß. Hören wir nun noch zum Schluß eine Stelle aus Luthers Kirchenpostille (W. XII. 1198ff.). Daselbst schreibt Luther: „Darum treibt auch St. Paulus solche Vermahnung so fleißig an seinen Christen, daß es auch schier scheint, als thue er ihm zu viel, daß er allenthalben so heftig ihnen solches einbläuet, gerade als wären sie so unverständig, daß sie es nicht selbst wüßten, oder so unachtsam und vergessen, daß sie es ungeheißen und ungetrieben nicht thäten. Aber er weiß auch, daß obwohl die Christen angefangen haben zu glauben, und in dem Stande sind, darin die Frucht des Glaubens sich beweisen soll, so ist es darum nicht sobald gethan noch vollendet; daß es hier nicht gilt, also sagen und denken: Ja, es ist genug, daß die Lehre gegeben ist; darum wo der Geist und Glaube ist, da werden die Früchte und guten Werke von sich selbst folgen. Denn obwohl der Geist da ist und, wie Christus sagte, willig ist, und auch wirkt in denen, die da glauben; so ist doch auch dagegen das Fleisch, das ist schwach und faul, dazu der Teufel nicht feiert, daß er möge dasselbe schwache Fleisch durch Anfechtung und Reizung wieder zu Fall bringen etc. – Darum muß man die Leute nicht also hingehen lassen, als dürfte man nicht vermahnen noch treiben durch Gottes Wort zu gutem (S. 304) Leben. Nein, du darfst hier nicht nachlässig und faul sein; denn das Fleisch ist schon allzu faul, dem Geist zu gehorchen, ja, es ist allzu stark, demselben zu widerstehen; wie St. Paulus anderswo gesagt, Gal. 5,17.: „Das Fleisch gelüstet wider den Geist etc., daß ihr nicht thut, was ihr wollet.“ Darum muß Gott hier auch thun, wie ein guter, fleißiger Haushalter oder Regent, wo er einen faulen Knecht oder Magd, oder unfleißige Amtleute hat (wenn sie gleich sonst nicht böse noch untreu sind), der muß nicht denken, daß es damit ausgerichtet sei, daß er einmal oder zwei befohlen hat, was sie thun sollen, wo er nicht selbst immer ihnen auf dem Rücken liegt und treibt. – Also ist es mit uns auch noch nicht dazu kommen, daß unser Fleisch und Blut daher ginge und springe in eitel Freuden und Lust zu guten Werken und Gehorsam gegen Gott, wie der Geist gerne wollte und der Glaube weiset: sondern wenn er sich gleich immer mit ihm treibet und bläuet, so kann er es dennoch kaum fortbringen; was sollte denn geschehen, wenn man wollte solch Vermahnen und Treiben lassen anstehen, und gleichwohl hingehen und denken (wie viel sichere Geister thun): Ja, ich weiß selbst wohl, was ich thun soll, habe es vor so viel Jahren und so oft gehört, ja, auch andere gelehret! etc.; daß ich halte, wo man ein Jahr schwiege mit Predigen und Vermahnen, so würden wir ärger werden, denn keine Heiden sind.“

 

- FORTSETZUNG -