C. F. W. Walther (1811-1887):
Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.
Dreißigste Abendvorlesung. (5. Juni 1885.)
Viele Jünglinge, welchen Gott schöne Gaben verliehen hat gerade zur Ausrichtung des Predigtamtes, ja, die sogar eine gewisse Neigung haben zur Amtsthätigkeit eines Predigers, wollen doch keine Prediger werden. Warum? Darum, weil sie denken, daß es dann um ihr Lebensglück und um ihre Freiheit geschehen sei. Es ist das aber eine große Selbsttäuschung. Denn jeder, der selig werden will, muß doch bereit sein, wenn es Christus will, um seinetwillen das Lebensglück zu opfern und auf seine Freiheit zu verzichten. Nicht nur ein Prediger, sondern ein jeder Christ muß ja den schmalen Weg erwählen, der zum Himmel führt, wenn er überhaupt hinkommen will, muß die Welt verlassen, muß sein Fleisch bekämpfen und kreuzigen, muß mit Furcht und Zittern schaffen, selig zu werden, wenn er nicht ewig verloren gehen will. Darum gewinnt ein Jüngling dadurch, daß er kein Prediger werden will, wenig oder gar nichts für sein lüsternes Fleisch. Ein Christ muß doch ein geistlicher (S. 305) Priester sein – wenn auch kein Prediger – ein geistlicher Priester, wenn er nämlich die Gnade Gottes nicht von sich stoßen will. Das ist freilich wahr: wer ein Prediger werden will, der muß zuerst ein wahrer Christ geworden sein; das ist die conditio sine qua non. Das Register der nöthigen Eigenschaften der Bischöfe, oder was dasselbe ist, der Prediger, schließt der Apostel Paulus 1 Tim. 3 mit den Worten: „Die das Geheimniß des Glaubens in reinem Gewissen haben.“ Daraus sehen wir: ein Prediger muß ein gereinigtes Gewissen haben, nicht nur gereinigt durch Christi Blut in der Vergebung der Sünden, sondern auch durch die Heiligung des Geistes. Ein Prediger muß zu der großen Entscheidung allerdings gekommen sein, daß er nicht sich selbst, sondern dem leben will, der für ihn gestorben und auferstanden ist. Ein Prediger muß bei seiner Ordination, in welcher er ausgesondert wird aus der Welt zum Dienst im Heiligthum, der Welt auf ewig Valet gesagt haben und ihr den Scheidebrief als einen unwiderruflichen gereicht haben. Ein Prediger muß mit sich selbst eins geworden sein, daß er mit jenem frommen Dichter sagen kann:
„Mein Herz, begreif dich nun!
Du mußt es redlich wagen!
Du kommst nicht ehr zur Ruh.
Sagst du hinfort der Welt
Und was dem Fleisch gefällt
Rein ab, und Christo an,
So ist die Sach gethan.“
Ach wohl Ihnen, meine theuren Freunde, wenn Sie diesen Vers zu einem Seufzer Ihres Herzens machen: „Rein ab, und Christo an, so ist die Sach gethan!“ – Aber nicht eher – dann ist die Sach gethan! Bekommt daher eine Gemeinde zwar einen orthodoxen, aber unbekehrten Prediger, der die reine Lehre wohl ganz schön in seinem Gedächtniß und Verstand gefaßt hat, der aber nicht aus Erfahrung glaubt, was er predigt, so ist das für eine Gemeinde ein wahres Unglück, ein großes Unglück. Denn ein solcher wird ja freilich, wenn er die reine Lehre hat, meist von der Kanzel herab seine Gemeinde auf gute Weide führen, aber dabei wird er ein schlechter Seelenwächter und Seelsorger und ein noch schlechteres Vorbild sein. Seine Gemeinde wird an ihm durchaus nicht sehen, wie ein sich selbst und die Welt verleugnender und absagender Christ aussieht. Wohl wird er, wenn er Nutzen davon hat, vielleicht bei der reinen Lehre bleiben, vielleicht sogar tapfer kämpfen für dieselbe, aber laß ihn nur dahin kommen, daß man ihn verachtet, seinen Eifer mit Undank belohnt, daß er für die reine Lehre Schmach und Verfolgung erleiden muß, dann wird er bald abfallen, und man wird sehen, daß sein Christenthum aus einer faulen Wurzel herausgekommen, und (S. 306) die Gemeinde mit ihm betrogen gewesen ist. Denn darauf kommt es hauptsächlich in einer Gemeinde an, wenn Noth entsteht, wenn Wölfe und Füchse kommen, daß ihr Hirte feststeht und bereit ist, sein Leben für die Wahrheit und für seine Heerde herzugeben und sein Blut zu vergießen. Ein unbekehrter Mensch würde das lächerlich finden, sein schönes Leben mit der schönen Stelle und der schönen Einnahme fahren zu lassen, weil es sich um eine subtile Lehre handelt – so sieht er es vielleicht an, denn er hat noch nie den rechten Zusammenhang der Lehre von der Seligkeit durchschaut. Und wenn es sich nicht gerade um objective oder speculative Lehren handelt, sondern um eine solche, die rein practisch zu einer rechten Erkenntniß und Erfahrung des Herzens gehört, da wird ein solcher orthodoxer Prediger wie ein Blinder von der Farbe reden. Bald wird er das wahre Christenthum überspannen, bald auch wird er es niedriger stellen, als er soll. Wie er das wahre Christenthum überspannen könnte und damit Gesetz und Evangelium vermischen, haben wir gehört. Heute wollen wir hören, wie ein Prediger das wahre Christenthum niedriger stellen kann, als seine eigentliche Natur ist.
Thesis XVIII.
Gottes Wort wird vierzehntens nicht recht getheilt, wenn man das allgemeine Verderben der Menschen so beschreibt, als ob auch die wahrhaft Gläubigen in herrschenden und muthwilligen Sünden lebten.
Merken Sie wohl: „Das allgemeine Verderben“, als ob die wahrhaft Gläubigen in herrschenden und muthwilligen Sünden lebten! Wer die reine Lehre kennt, der wird nicht geradezu sagen, daß ein Christ könne ein Hurer und Ehebrecher sein; das wird keinem reinen Lehrer einfallen. Aber gar leicht kann man in die Versuchung kommen, hier von der reinen Lehre abzugehen, wenn man nämlich das allgemeine Verderben der Menschen beschreiben will und zwar so recht eindringlich. Wir reden gerade von den Fehlern, welche eifrige Prediger häufig machen. Das thun auch Studenten. Wenn sie die erste Predigt vorlasen, haben so viele gesagt: „Wir Menschen leben in den und den Sünden“, und haben von solchen Sünden geredet, daß offenbare Todsünden mit eingeschlossen waren, als ob Christen darin lebten! Was kann da für Schade entstehen, wenn die Leute hören: „Wir Menschen, wir leben in allen Greueln und Schanden und Lastern!“ Da muß man immer hinzusetzen „von Natur ist der Mensch so“, oder: „so lange der Mensch in seinem natürlichen Verderben liegt oder noch nicht wiedergeboren ist.“ Dann kann man freilich diesen (S. 307) Zustand nicht schrecklich genug beschreiben. Aber wenn Sie vor einer christlichen Gemeinde reden, dürfen Sie um Gottes willen nicht so reden, als ob auch alle wahren Christen in solchen Schanden und Lastern lebten. Da gilt es also, recht vorsichtig zu sein. So schädlich und gefährlich es war, daß einst die Pietisten eine so große Zahl Klassen der Menschen machten und niemand wußte, in welche Klasse er gehörte, so dürfen wir doch ja nicht unterlassen, in unsern Predigten fort und fort die zwei großen Klassen zu machen, daß wir unterscheiden zwischen Gläubigen und Ungläubigen, zwischen Frommen und Gottlosen, zwischen Bekehrten und Unbekehrten, zwischen Wiedergebornen und Unwiedergebornen. So klassificirt fort und fort die heilige Schrift. Hören Sie nur, wie Christus immer gepredigt hat! „Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubet, der wird verdammt werden.“ Er kennt nur zwei Klassen. „Ich bin nicht gekommen, die Gerechten, sondern die Sünder zur Buße zu rufen.“ Wieder nur zwei Klassen! „Gott läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, und lässet regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Matth. 13 redet er von den Kindern des Reichs und den Kindern der Bosheit. Er weiß nur von Weizen und Unkraut. Das muß durch die Predigt und zwar durch jede Predigt eines rechtschaffenen Predigers hindurchklingen, dieses aut - aut = entweder - oder. Das müssen die Zuhörer lernen: „Entweder bist du todt, oder lebendig; entweder bekehrt, oder unbekehrt; entweder du bist unter Gottes Zorn, oder du stehst in der Gnade; entweder bist du ein Christ, oder ein Unchrist; entweder schläfst du den Schlaf der Sünden, oder du bist aufgewacht zu einem neuen Leben aus Gott; entweder gehörst du noch in des Teufels Reich, oder du bist in Gottes Reich.“ Darum ist das eine so verfluchte Ketzerei unserer Neueren, daß sie von einem Hades lehren, da könne der Mensch sich noch bekehren. Das ist eine so erschreckliche Lehre, daß es gar nicht auszusagen ist. Davor möge Sie Gott in Gnaden bewahren, daß Sie der Teufel nicht verführe, diese schändliche Lehre anzunehmen! Nein, in all Ihren Predigten machen Sie den Leuten klar: „Es gibt nur zwei Orte nach diesem Leben: den Himmel und die Hölle. Es gibt nur zwei Urtheile, das eine zur Verdammniß, das andere zur Seligkeit. Es gibt in diesem Leben nur zwei Klassen von Menschen, die einen gehen stracks zur Hölle, die andern stracks zum Himmel.“ Denn Christus sagt ja ausdrücklich: „Die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammniß abführet, und ihrer sind viel, die darauf wandeln; und die Pforte ist enge und der Weg ist schmal, der zum Leben führet, und wenig ist ihrer, die ihn finden.“ Es gibt also nur zwei Pforten, und zwei Wege, es gibt auch nur zwei Enden dieser Wege. Darum ist es ganz erschrecklich, wenn man Gesetz und Evangelium (S. 308) so greulich mit einander vermischt, daß man diese beiden Klassen vermengt. Das Gesetz macht verdammte Sünder, das Evangelium macht freie, selige Menschen. – Hören wir nun noch einige Schriftstellen, ob es gleich unnöthig zu sein scheint, das noch weiter auseinanderzusetzen – denn die Sache ist so klar wie das helle Tageslicht – aber man kann so leicht auf diesen Fehler kommen in der besten Absicht, indem man schildert, „was für greuliche Sünder wir sind, die eines Heilandes bedürfen“. Wenn Sie so reden, dürfen Sie nicht die bekehrten Christen zu Grunde legen. Das sind keine so „greulichen“ Sünder. Die Schwachheit, die sich an ihnen findet, wird zugedeckt mit Christi Verdienst, und das Gute, was sie thun, ist lauter Gotteswerk, das gefällt Gott wohl. Jeder Christ, der getauft wird, kann daher das Wort auf sich anwenden: „Siehe, das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Röm. 6,14.: „Denn die Sünde wird nicht herrschen können über euch; sintemal ihr nicht unter dem Gesetz seid, sondern unter der Gnade.“ – Er sagt nicht bloß: „Die Sünde soll nicht herrschen“, sondern: „sie wird nicht herrschen können über euch“. Es ist ganz unmöglich, daß, wer in Gnaden steht, die Sünde sollte über sich herrschen lassen. Wenn ein Pilger auf einer Straße einsam wandert und er wird von einem Straßenräuber überfallen, so entflieht er dem Räuber, sobald er kann; er will sich nicht von ihm hinwerfen lassen, will sich nicht fällen lassen. Der Christ pilgert in dieser Welt durch dieses Leben auf dem Weg zum Himmel dahin. Der Teufel, wie ein Straßenräuber, überfällt ihn, und der Christ fällt auch, aber nicht, weil er es sich vorgenommen hat, sondern aus Schwachheit. Das wird ihm dann vergeben. In täglicher Buße klagt das ein wahrer Christ seinem Gott mit Thränen, oder doch mit dem allerinnigsten Seufzer um Vergebung. Wer aber die Sünde über sich herrschen läßt, der hat das sicherste Zeichen: er ist kein Christ. Wenn er noch so fromm sich stellt, so ist das lauter Heuchelei. 1 Cor. 6,9-11.: „Wisset ihr nicht, daß die Ungerechten werden das Reich Gottes nicht ererben? Laßt euch nicht verführen: weder die Hurer, noch die Abgöttischen, noch die Ehebrecher, noch die Weichlinge, noch die Knabenschänder, noch die Diebe, noch die Geizigen, noch die Trunkenbolde, noch die Lästerer, noch die Räuber werden das Reich Gottes ererben. Und solche sind euer etliche gewesen; aber ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiliget, ihr seid gerecht worden durch den Namen des HErrn JEsu, und durch den Geist unsers Gottes.“ Wer also in solche Sünden fällt, wird das Reich Gottes nicht ererben, es sei denn, daß er Buße thue. Aber die Buße zeigt sich darin, daß der Mensch diese Sünden nicht mehr begeht. Wer diese Sünden thut, der hat das (S. 309) Siegel: „Du bist kein Christ; du bist ein verdammter Mensch; dich treibt nicht der Geist Gottes, sondern der Geist aus der Hölle.“ 2 Petr. 2,20-22.: „Denn so sie entflohen sind dem Unflat der Welt durch die Erkenntniß des HErrn und Heilandes JEsu Christi, werden aber wiederum in denselbigen geflochten und überwunden, ist mit ihnen das Letzte ärger worden, denn das Erste. Denn es wäre ihnen besser, daß sie den Weg der Gerechtigkeit nicht erkannt hätten, denn daß sie ihn erkennen, und sich kehren von dem heiligen Gebot, das ihnen gegeben ist. Es ist ihnen widerfahren das wahre Sprüchwort: Der Hund frisset wieder, was er gespeiet hat; und die Sau wälzet sich nach der Schwemme wieder im Koth.“ Diese Stelle ist besonders wichtig gegenüber den Calvinisten, welche sagen: „Wer zum wahren Glauben gekommen ist, der kann ihn nicht verlieren.“ Der Apostel Petrus redet hier so von solchen, die erst Kinder Gottes waren, die den HErrn JEsum lebendig erkannt hatten, die in der Gnade Gottes standen. Wer kann nun so frech sein zu behaupten: „Nein, wenn einer wahrhaft sich bekehrt hat, dann bleibt er auch bekehrt, wenn er auch in solche einzelne Sünden fällt, wie Petrus und David?“ Röm. 8,13.14.: „Denn wo ihr nach dem Fleisch lebet, so werdet ihr sterben müssen; wo ihr aber durch den Geist des Fleisches Geschäfte tödtet, so werdet ihr leben. Denn welche der Geist Gottes treibet, die sind Gottes Kinder.“ Der Apostel sagt nicht: „Nun, so wird der liebe Gott euch doch in seiner Gnade erhalten und ihr werdet schon wieder zurecht kommen“, sondern: „Ihr werdet sterben müssen, wenn ihr nach dem Fleisch lebet. Welche der Geist Gottes treibet, die sind Gottes Kinder. Da will er sagen: „Die, welche nicht der Geist Gottes treibt, sondern ihr Fleisch, die sind Gottes Kinder nicht, sondern Knechte des Satans.“ Gal. 5,19-21.: „Offenbar sind aber die Werke des Fleisches, als da sind: Ehebruch, Hurerei, Unreinigkeit, Unzucht, Abgötterei, Zauberei, Feindschaft, Hader, Neid, Zorn, Zank, Zwietracht, Rotten, Haß, Mord, Saufen, Fressen und dergleichen; von welchen ich euch habe zuvor gesagt, und sage noch zuvor, daß, die solches thun, werden das Reich Gottes nicht erben.“ – Bleiben Sie ja bei jedem Wort stehen und überlegen Sie es sich! Ist es nicht erschrecklich, wenn solche, die christliche Theologen sein wollen, sagen, es könne einer in der Gnade stehen, wenn er auch in solchen greulichen Sünden lebe, denen hier das Reich Gottes verschlossen wird, denen das Gericht verkündigt wird? Eph. 5,5.6.: „Denn das sollt ihr wissen, daß kein Hurer, oder Unreiner, oder Geiziger (welcher ist ein Götzendiener) Erbe hat an dem Reich Christi und Gottes. Lasset euch niemand verführen mit vergeblichen (S. 310) Worten; denn um dieser willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Unglaubens.“ „Lasset euch niemand verführen, hört nicht auf die, die das Gegentheil sagen. Deswegen werden die Ungläubigen verdammt, weil sie in solchen scheußlichen Sünden leben. Also bedenkt wohl, wenn ihr auch in solchen Sünden stecktet, so würdet ihr dasselbe Loos haben, so werdet ihr verdammt werden“, das gibt Paulus den Ephesern zu bedenken. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß solche Stellen in den Perikopen vorkommen. Die muß man recht werth halten und sie benützen, diese Lehre der Gemeinde recht lebendig vorzutragen. Es thut mir jedesmal wehe, wenn ich in eine Kirche komme und es wird nicht darüber gepredigt und der schöne, herrliche Text wird nicht recht benutzt. Das müssen Sie sich vornehmen: „Wenn der und der Text kommt,“ dann will ich meinen Zuhörern auch auseinandersetzen: „Wer in der und der Sünde lebt, der ist verdammt, so wahr Gott lebt.““ Denn wenn man nur sagt, daß Christen Sünder bleiben bis an ihren Tod, dann wird das häufig mißverstanden. Manche lullen sich ein und denken: „Wir sind auch so arme, schwache Menschen, aber wir glauben an den HErrn JEsum Christum“, nämlich mit dem Maul! Das muß ich Ihnen überhaupt sagen: Sie müssen im Voraus die Perikopen, über die Sie predigen wollen, durchgehen und sich vergegenwärtigen: „Das ist etwas! Da kannst du davon predigen und hier davon!“ Wer aber nur nachsieht, so am Mittwoch oder Donnerstag: „Was ist denn nächsten Sonntag für eine Perikope? Da kann man das und das sagen! Da kannst du leicht acht Seiten schreiben und Dreiviertelstunde predigen! Das macht nicht sehr viel Noth!“ – der verräth damit eine schändliche Miethlingsgesinnung. Ein rechter Prediger denkt schon am Sonntag-Abend daran: „Welchen Gegenstand willst du nächsten Sonntag nehmen? Die köstlichen Augenblicke, in denen du mit der Gemeinde redest, mußt du aufs allerherrlichste auskaufen!“ – wenn er nicht vielleicht an diesem Abend Besuche zu machen oder zu geben hat. Es ist ihm eine wahre Lust, wie er bald diese, bald jene Befestigung des Teufels erstürmen kann. Freilich wird es nicht dahin kommen, daß er alles stürzen kann, aber Sie müssen doch den ernsten Willen haben, es dahin zu bringen, sonst werden viele in ihrem geistlichen Elend, in ihrem Sündenelend stecken bleiben und Sie haben es zu verantworten. Thun Sie aber, so viel Sie durch Gottes Gnade vermögen, so wird der Heiland Sie um Ihrer Schwachheit willen nicht beschämen, sondern Ihnen aus Gnaden die Ehrenkrone aufsetzen. Nun hören Sie ein Zeugniß aus den Schmalkaldischen Artikeln, welches Sie stärken soll in der Ueberzeugung, die ich in Ihnen zu erzeugen (S. 311) versucht habe. Es heißt daselbst (P. III, Art. 4, §42-45; Müller, S. 319): „Wiederum, ob etliche Rottengeister kommen würden, wie vielleicht etliche bereit da fürhanden sind und zur Zeit der Aufruhr mir selbst für Augen kamen, die da halten, daß alle die, so einmal den Geist der Vergebung der Sünden empfangen hätten, oder gläubig worden wären, wenn dieselbigen hernach sündigten, so blieben sie gleichwohl im Glauben und schadet ihnen solche Sünde nicht, und schrieen also: Thu, was du willt, gläubest du, so ist’s alles nichts, der Glaube vertilget alle Sünde etc. Sagen dazu: Wo jemand nach dem Glauben und Geist sündiget, so habe er den Geist und Glauben nie recht gehabt. Solcher unsinnigen Menschen habe ich viel für mir gehabt, und sorge, daß noch in etlichen solcher Teufel stecke. – Darum so ist vonnöthen zu wissen und zu lehren, daß, wo die heiligen Leute über das, so sie die Erbsünde noch haben und fühlen, dawider auch täglich büßen und streiten, etwa in öffentliche Sünde“ – offenbare Sünde, Todsünde, die jedermann sogleich erkennt – „fallen, als David in Ehebruch, Mord und Gotteslästerung, daß alsdenn der Glaube und Geist ist weg gewest. Denn der Heilige Geist lässet die Sünde nicht walten und überhand gewinnen, daß sie vollenbracht werde, sondern steuret und wehret, daß sie nicht muß thun, was sie will. Thut sie aber, was sie will, so ist der Heilige Geist und Glaube nicht dabei; denn es heißt, wie S. Johannes sagt: Wer aus Gott geboren ist, der sündiget nicht, und kann nicht sündigen. Und ist doch auch die Wahrheit (wie derselbige S. Johannes schreibet): So wir sagen, daß wir nicht Sünde haben, so lügen wir, und Gottes Wahrheit ist nicht in uns.“ Nun aber, damit Sie nicht denken: „Da wird um Dinge gekämpft, die jedermann einsieht“, will ich Ihnen zum Beweis dafür, daß die Calvinisten den Irrthum, den unsere Thesis verwirft, zu ihrem System gemacht haben, eine Stelle aus den Beschlüssen der Dordrechter Synode anführen. Es heißt daselbst u. a. (C. V, 6): „Gott, der da reich ist an Barmherzigkeit, nimmt nach dem unwandelbaren Vorsatz der Wahl den Heiligen Geist auch in schweren Sündenfällen nicht gänzlich von den Seinen, läßt sie auch nicht so weit fallen, daß sie aus der Gnade der Kindschaft und aus dem Stand der Rechtfertigung fallen.“ – Aber wer in eine Todsünde fällt, der fällt in den ganzen Stand der Sünde zurück. Nach dem Bekenntniß der Reformirten sind also Petrus, David und andere, während sie eine Todsünde begingen, doch gerechtfertigte Leute, sind als Kinder in der Gnade geblieben und haben den Heiligen Geist behalten. Das behaupten wir freilich auch, daß die Auserwählten nicht bis an ihren Tod in einem verdammlichen Zustand bleiben können, sonst könnten sie nicht auserwählt sein. (S. 312)