C. F. W. Walther (1811-1887):
Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.
Einunddreißigste Abendvorlesung (12. Juni 1885.)
Die Existenz und der Ursprung der Sünde gehört zu den höchsten Problemen des menschlichen Forschens. Selbst alle ernsteren Philosophen des heidnischen Alterthums haben sich mit diesem hochwichtigen und ernsten Gegenstand beschäftigt. Aber weil sie nichts davon wußten, daß Gott den Menschen ursprünglich nach seinem Ebenbild vollkommen gut erschaffen habe und daß der Mensch durch Verführung des Satans bald darnach gefallen sei, so haben sie freilich die Erschrecklichkeit der Sünde, und woher sie gekommen sei, nicht entdecken können. Meistens kommen sie nicht weiter als auf den Gedanken: „Die Sünde ist eben eine dem Menschen angeborne Schwachheit und Gebrechlichkeit.“ Andere hingegen, welche noch tiefer gehen wollten, z. B. Zoroaster, Manes und viele Gnostiker, behaupteten, es gebe ein doppeltes Urprincip oder Urwesen, ein gutes und ein böses. Von dem guten habe der Mensch das Gute, und von dem bösen das Böse. Aber bei dem allen haben sie den furchtbaren Greuel der Sünde nicht erkennen können. Leider gibt es aber auch mitten in der Christenheit Unzählige, sowohl Getaufte als Ungetaufte, welche nicht wissen, was die Sünde ist. Die einen, wie die Rationalisten, behaupten, der Mensch sei von Natur gut; böse und sündhaft werde er erst durch böse Beispiele, durch verkehrte Erziehung und durch die Reizungen der Sinnlichkeit, denen er sich standhaft entgegenzusetzen nicht die Kraft habe. Andere, nämlich die Pantheisten, Atheisten und Materialisten, sagen, die Sünde sei gar nichts Schlimmeres als das Essen, wenn man Hunger hat, und das Trinken, wenn man Durst hat, es sei eine ganz natürliche Sache. Ja, die meisten unter ihnen gehen noch weiter und sagen, die Sünde sei das unumgänglich nöthige Mittel gewesen, daß der Mensch sich entwickle bis zum Selbstbewußtsein. Der verruchte Philosoph Hegel sagte gerade heraus, ohne den Sündenfall wäre das Paradies nur ein Park für Thiere gewesen. So nöthig erscheint ihm die Sünde, und es fällt ihm gar nicht ein, sie als einen Schaden anzusehen, sondern im Gegentheil als den Uebergang aus dem barbarischen Zustand in den Zustand des selbstbewußten Denkens. Diese Blindheit über die Sünde ist die Hauptursache an der fast allgemeinen Verwerfung des Evangeliums in unserer Zeit. Denn wer die Sünde nicht erkennt in ihrer Erschrecklichkeit, der will auch nichts wissen von einem Opfertod des Sohnes Gottes zur Versöhnung und Erlösung (S. 313) einer Sünderwelt, sondern er achtet das für ganz unnöthig und darum auch zugleich für eine armselige Fabel. Daher gehört es auch zu den allerwichtigsten Erfordernissen eines wahren evangelischen Predigers, daß er seinen Zuhörern die wahre Natur der Sünde ebenso klar und deutlich, als schrecklich, lebendig und eindringlich vorzustellen wisse. Denn ohne wahre Erkenntniß, was die Sünde ist und was für eine schreckliche Sache sie ist, ist die Erkenntniß des Evangeliums nicht möglich. So lange ein Mensch noch nicht über die Sünde erschrocken ist als über den größten Feind und als über den größten Greuel, der in ihm wohnt, kommt er nicht zu Christo. Ohne die wahre und die rechte Erkenntniß der Sünde kann natürlich noch weniger die Rede sein von rechter Scheidung des Gesetzes und des Evangeliums. Und das ist es, was uns zur nächsten Thesis führt.
Thesis XIX.
Gottes Wort wird fünfzehntens nicht recht getheilt, wenn man so predigt, als ob gewisse Sünden schon an sich nicht verdammlich, sondern an sich läßlich seien.
Das ist eine Sache von hoher Wichtigkeit, die Sie wohl erwägen müssen, oder es wird Ihnen einst viel fehlen für rechte Ausrichtung des Predigtamtes, wenn Sie hierin nicht zur Klarheit gelangt sind. Wir haben schon gesehen, daß man einen Unterschied machen muß zwischen Todsünden und läßlichen Sünden. Wer das nicht thut, der scheidet Gesetz und Evangelium nicht recht. Aber wenn man diesen Unterschied zwischen Todsünden und läßlichen Sünden macht, so muß das auch mit großer Vorsicht geschehen. Man muß zeigen: man unterscheidet nur insofern, als es gewisse Sünden gibt, welche den Heiligen Geist vertreiben. Wenn der Heilige Geist vertrieben wird, so wird auch der Glaube vertrieben, denn ohne den Heiligen Geist kann niemand zum Glauben kommen und darin bleiben. Das nennen wir Todsünden, die den Heiligen Geist vertreiben, die geistlichen Tod in uns wirken. Das kann jeder gar leicht erfahren. Sobald er muthwillig sündigt – und er war vorher ein Christ – wird er merken: Der Heilige Geist ist von ihm gewichen, er kann nicht mehr kindlich zu Gott beten, er kann den Versuchungen nicht mehr kräftig und tapfer widerstehen. Er wird merken: „Ich bin wie angekettet an die Sünde, ich bin ein Sclave der Sünde.“ Wohl dem, der diese Erkenntniß dann wenigstens hat! Er kann wieder zu Gott kommen. Aber so lange er in diesem Zustand ist, steht er nicht in der Gemeinschaft mit Gott. (S. 314) Läßliche Sünden nennen wir die, welche ein Christ begeht, und doch den Heiligen Geist nicht verliert. Das sind Schwachheitssünden, Uebereilungssünden, oder man nennt sie auch häufig die täglichen Sünden der Christen. Ebenso wie wir nun diesen Unterschied unsern Zuhörern einprägen müssen, so müssen wir uns doch auch um Gotteswillen vorsehen, daß wir nicht die Vorstellung erzeugen, die läßlichen Sünden seien Sünden, die man nicht zu achten brauche, um die man nicht um Vergebung zu bitten brauche. Wer so predigt, der predigt seine Zuhörer, so viel an ihm ist, in die Hölle hinein. Er macht sie fleischlich sicher, treibt die Furcht zu Gott aus dem Herzen hinaus. Das ist nicht die rechte evangelische Art zu predigen, wie das überhaupt eine ganz verkehrte Vorstellung ist, wenn man meint: „Der ist nur ein rechter evangelischer Prediger, der das Gesetz wenig predigt.“ Nein, beides muß gepredigt werden: Das Gesetz scharf und das Evangelium süß. Wer beides nicht nebeneinander predigt, der nenne sich nur keinen evangelischen Prediger, sondern wisse, daß er ein Verführer ist und das Evangelium säet wie Weizen in das Meer. Da kann der Same nicht aufgehen. Nur in zerbrochenen Herzen geht der himmlische Same des Evangeliums auf. – Aber nur zu oft kommt das vor: wenn Prediger von dem Unterschied reden zwischen den läßlichen Sünden und den Todsünden, so stellen sie es so dar, als brauchten die Christen sich über die läßlichen Sünden keine Sorge zu machen, daß sie auf den Gedanken kommen müssen, wir seien ja alle Sünder, wir würden die Sünde ja doch nicht los, darum brauche man deswegen nicht unruhig zu werden. Das ist aber eine schreckliche, gottlose Rede! Matth. 5,18.19.: „Denn ich sage euch: Wahrlich, bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom Gesetz, bis daß es alles geschehe. Wer nun eins von diesen kleinsten Geboten auflöset und lehret die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber thut und lehret, der wird groß heißen im Himmelreich.“ – Eins der schrecklichsten Worte, die wir in der heiligen Schrift finden. Es heißt nicht: „Er wird der Kleinste sein“, sondern: „Er wird der Kleinste heißen.“ „Der Kleinste“, das heißt, der Verworfenste, der von Gott nicht Erkannte. So wird man im Reich Gottes, im Reich JEsu Christi über ihn urtheilen! Ach, gehen Sie um Gotteswillen mit Zittern an die Predigt des Evangeliums sowohl wie des Gesetzes! Nehmen Sie sich wohl in Acht, daß Sie nicht einen Tüttel vom Gesetz oder ein sogenanntes kleines Gebot hinstellen als etwas, nach dem der Christ nicht so viel zu fragen brauche! Merkwürdig ist der Zusammenhang, in dem dieses Wort des HErrn steht. Vorher (S. 315) sagt er, er sei gekommen, um das Gesetz vollkommen zu erfüllen. Weil nun der HErr jedes Gesetz, jedes Gebot hat müssen für uns erfüllen, so ist es ganz erschrecklich, wenn der Mensch, der elende Sündenwurm, von einem Gebot Gottes dispensiren will und es so hinstellen, als habe es nicht viel auf sich. Die sind keine Christen, die so denken. Wer sich da so einen heimlichen Trost gemacht hat, der hat sich schändlich belogen und betrogen. Ein wahrer Christ zeigt sich auch darin als einen solchen, daß er sich fürchtet vor jeder Sünde, –Doch der HErr fügt noch hinzu: „und lehret die Leute also“, wenn er nicht nur darnach nicht handelt, leichtfertig lebt, was schon schlimm genug ist, sondern wenn er, was am allerschrecklichsten ist, sogar also predigt und die Leute damit in die Hölle hineinpredigt. Von solchen wird es Gott fordern. Da darf er nicht denken: „Ich habe eben nur Kleinigkeiten für nicht so wichtig erklärt, daß man sich deswegen nicht grämen soll.“ Nein, ein Christ grämt sich auch über Kleinigkeiten. Aber wer kein Christ ist, der spricht, wie es Ps. 56,8. heißt: „Was wir Böses thun, das ist schon vergeben!“ Das ist das Motto der Gottlosen. Ein Unbekehrter denkt: „Nun, das will ich bald wieder gut machen, da kann bald wieder Gras drüber wachsen!“ Nein, da wächst kein Gras drüber, das bleibt vor Gottes Angesicht, wenn nicht um Vergebung gebeten wird. Matth. 12,36.: „Ich sage euch aber, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben am jüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Wort, das sie geredet haben.“ – Da wird gesagt in concreto, wie schändlich es ist, zu sagen, daß es Sünden gibt, die an sich läßlich seien; Gott erlasse sie von selbst, er sehe sie gar nicht für so etwas Schlimmes an. Die so reden, machen sich aus dem lieben Gott, aus dem heiligen und gerechten Gott einen schwachen, alten Mann, der wie Eli seine Kinder sündigen läßt und zwischenhinein sagt: „Nicht also! Nicht also!“ – und es dabei bewenden läßt. Gott ist ja freilich die Liebe, aber auch die Heiligkeit und Gerechtigkeit, und er verwandelt sich gegen den, der sich wider ihn auflehnt, in ein schreckliches Zornfeuer, das hinunterbrennt bis in die unterste Hölle. Mag immerhin die Welt darüber höhnen und lachen, dieses Lachen wird ihnen, wie einst den Sodomitern, theuer zu stehen kommen! Wie wird da jedes unnütze Wort vorgenommen werden! Wenn es aber vor Gericht genommen wird, so ist es klar, daß man wegen eines einzigen solchen Wortes kann verdammt werden. Welcher Christ kann aber sagen, wenn er namentlich an einem Tag viel geredet hat, er habe kein unnützes Wort gesprochen? Wenige Christen werden sagen können: „Ich habe heute kein unnützes Wort geredet.“ Das soll darum der Christ seinem Gott abbitten mit zerbrochenem Herzen, und geloben, daß er wolle (S. 316) besser wachen über seinen Mund. Wenn Gott ihm diese Sünden nicht vergäbe, so würden ihn diese unnützen Worte schon verdammen. Es gibt keine Sünde, die läßlich ist an sich, aber es gibt solche, die nicht verhindern, daß man an JEsum Christum glauben kann von ganzem Herzen. Jac. 2,10.: „Denn so jemand das ganze Gesetz hält und sündiget an einem, der ist es ganz schuldig.“ – Wir wollen annehmen, die heilige Schrift enthielte tausend Gebote – sie enthält freilich mehr wie tausend Gebote, denn sie gibt immer nur das Genus an, die einzelnen Species sollen wir suchen – und wenn einer nun 999 Gebote gehalten hätte und eins nicht, so ist er das ganze Gesetz schuldig. Das gilt auch von den sogenannten läßlichen Sünden. Ein Christ muß das lebendig erkennen, oder er hört auf, ein Christ zu sein. Das ist es eben, was mich zum Christen macht, daß ich lebendig erkenne: „Ich bin ein elender, verfluchter, verdammter Sünder, der ewig verdammt werden müßte, wenn nicht Christus für mich gestorben wäre! Aber ich glaube, daß JEsus Christus, wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, sei mein HErr, der mich verlornen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tod und von der Gewalt des Teufels.“ Ein Christ muß sich für einen verlornen und verdammten Sünder erkennen, oder sein Geschwätz vom Glauben ist eben eitel und nichts. Gal. 3,10.: „Denn die mit des Gesetzes Werken umgehen, die sind unter dem Fluch. Denn es stehet geschrieben: Verflucht sei jedermann, der nicht bleibt in alle dem, das geschrieben stehet in dem Buch des Gesetzes, daß er’s thue.“ – Man muß in allem bleiben, das geschrieben stehet im Buch des Gesetzes, daß man darnach thue, oder der Fluch trifft uns nach dieser klaren Stelle. Also kann es keine Sünde geben, die an sich läßlich ist, sondern sie sind nur läßlich um Christi willen. 1 Joh. 1,7.: „Das Blut JEsu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.“ „Von aller Sünde!“ Also muß ja doch das Blut JEsu Christi, des Sohnes Gottes, nöthig sein, um auch die sogenannten läßlichen Sünden zu tilgen, sonst müßte es heißen: „von allen Todsünden, von allen schweren, von allen groben Sünden“. Ist aber das Blut des Sohnes dazu nöthig gewesen, daß wir auch von den läßlichen Sünden gereinigt werden, so müssen sie auch an sich Todsünden sein. Die Sünde ist eine „anomia“, darum ist jede Sünde etwas Erschreckliches. Die Sünde ist ein Aufruhr gegen den heiligen, allmächtigen Gott, unsern allerhöchsten, himmlischen Gesetzgeber. Wer nun vollends muthwillens sündigt, der handelt wie einer, der ein Gesetz, welches der König (S. 317) hat anschlagen lassen, hernimmt, es von der Mauer herunterreißt und mit Füßen tritt. Was wird mit einem solchen geschehen? In einer unumschränkten Monarchie wird ein solcher zum Tode verurtheilt werden. Aber wenn wir nun auch das Gesetz Gottes nicht so herunterreißen, so handeln wir doch täglich dagegen. Darüber sollen wir herzlich klagen. Darum ist ein wahrer Christ kein frecher Mensch, er geht nicht mit aufgerecktem Halse einher, – Sie verstehen mich, wie ich es meine – ein wahrer Christ hat ein zerbrochenes Herz, sein Herz ist nicht hart. Wenn ihm Gottes Wort gesagt wird, so nimmt er das den Augenblick an und demüthigt sich vor demselben. Den Christen kann jeder warnen, jeder strafen, er nimmt es an. Es kann ihn freilich auch, wie Luther sagt, der Teufel einmal reiten, daß er sich den Augenblick doch widersetzt, aber es fängt schon an zu brennen, er müßte denn fast wie von Sinnen kommen, daß er jetzt eine kurze Zeit nicht daran denkt, wie ganz unchristlich, wie gottlos er sich jetzt benimmt. Aber das dauert nicht lange, so bittet er es Gott und Menschen ab. Wer keinen solchen gebrochenen Geist hat, der mag noch so viel reden von Glauben und Christenthum – es ist alles nichts; denn die Sünde hat ihn im Besitz. – Halten wir also fest: sei eine Sünde, welche es wolle, sie ist nicht an sich läßlich; sei es, was es wolle, geht es wider das Gesetz, so hat das Gesetz mich zu verdammen. Hierher kann man auch nehmen: Matth. 5,21.22.: „Ihr habt gehöret, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht tödten; wer aber tödtet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha, der ist des Raths schuldig; wer aber sagt: Du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldig“ – Wo gibt es einen Christen, der sich nicht dessen anklagen müßte, daß er gar manchmal mit seinem Bruder gezürnt habe, wenn auch nicht lange Zeit, wenn auch aus Schwachheit, daß er aber doch damit eine Sünde gethan habe, deren er sich schämen sollte? „Der ist des Gerichts schuldig!“ Christus stellt das Zürnen dem Tödten und Morden ganz gleich. „Wer aber zu seinem Bruder sagt: „Racha““, das heißt, wenn der Zorn herausbricht in Worten und Geberden. „Wer aber sagt: du Narr“, bei dem hat die Sünde des Zorns den höchsten Grad erreicht; da heißt es im Gesetz: „Schnell mit einem solchen ins höllische Feuer!“ – Das sind lauter Beweise, daß die sogenannten läßlichen Sünden nicht von Natur, nicht an sich läßlich sind, sondern verdammlich und Todsünden. Aber wenn der Glaube hinzukommt, dann heißt es: „Es ist nichts Verdammliches an denen, die in Christo JEsu sind.“ Aber das sind eben solche Leute, die die Sünde sehr hoch achten. (S. 318) Damit Sie nun nicht denken: „Ach, wer wird denn so predigen?“ so hören Sie zuerst, wie die Papisten in ihrem Katechismus sprechen. Der Römische Katechismus sagt (II, 5. Fr. 46): „Man muß dem Priester alle Todsünden entdecken. Denn die läßlichen Sünden, die uns von der Gnade Gottes nicht trennen und in die wir häufiger verfallen, können, obwohl wir sie mit Recht und Nutzen beichten, . . . doch ohne Schuld verschwiegen und auf verschiedene andere Weise gesühnt werden. Die Todsünden aber . . . müssen einzeln aufgezählt werden; . . . denn es geschieht, daß sie die Seele schwerer verwunden als jene, durch welche die Menschen sich frei und öffentlich zu versündigen pflegen.“ – Da wird also gesagt: „Für die läßlichen Sünden braucht man keine Absolution.“ Das ist aber eine antichristische Lehre. Sie sagen es so naiv hin, und doch liegt darin ein wahrer Abgrund der Bosheit. Da trifft sie das Wort des HErrn: „Der wird der Kleinste heißen im Himmelreich.“ Kromayer schreibt deshalb (Th. posit.-pol. I, p. 511): „Es gibt keine ihrer Natur nach läßliche Sünde. Zwischen der römischen Scylla und der calvinistischen Charybdis ist hier der Mittelweg zu gehen.“ Zu den läßlichen Sünden rechnen die Römischen u. a. sündliche Begierden, die nicht zur Ausführung kommen. Aber wenn viele schändliche Buben zwar manches nicht ausführen, aber auf ihrem Lager ergötzen sie sich an allerlei schändlichen Bildern, die sollen nur wissen, sie leben in Todsünden. Sie scheuen sich nur, die That auszuführen, um Schande zu vermeiden. Oder eine Kleinigkeit, eine Nadel zu nehmen, das soll auch eine läßliche Sünde sein. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie meine Eltern es uns tief einprägten: „Auch nicht eine Stecknadel dürft ihr nehmen.“ Die Kinder müssen merken, daß der Vater ein Feind jeder Sünde ist und überaus zornig darüber wird, oder doch sehr ernst; sie müssen sehen: „Der Vater nimmt das sehr genau!“ Das ist etwas Köstliches, wenn das die Eltern thun! Hören Sie nun, was Socinus in seinem Commentar zum Evangelium Johannes schreibt (S. 448): „Es scheint gewiß zu sein, daß in einem Menschen, der Christi Glauben sonst von Herzen bekennt, ein Act des Sündigens nicht die Kraft haben könne, daß er an sich ihm den Tod bringe, und wenn von einer Sünde zum Tode geredet wird, nicht von einer Sünde, sondern von der Gewohnheit zu sündigen die Rede sei.“ – Nach der Lehre der Socinianer braucht man es Gott nicht gerade abzubitten, wenn man einmal einen Sündenfall thut. Nein, es muß erst bei einem zur Gewohnheit werden, es muß zum Laster werden, dann schließt die Sünde vom Reich Gottes aus. Hören wir hierzu ein paar Zeugnisse von Luther. Zuerst eine (S. 319) Stelle aus seinen „Erläuterungen der zu Leipzig disputirten Thesen“. (W. XVIII, 882 ff.) Die zweite Thesis, welche Luther vertheidigt, lautet: „Zu leugnen, daß der Mensch auch im Guten sündige, und daß eine läßliche Sünde eine solche sei, nicht ihrer Natur nach, sondern allein durch Gottes Barmherzigkeit, oder daß in einem Kinde auch nach der Taufe Sünde übrig bleibe, das heißt Paulum und Christum zugleich mit Füßen treten.“ Dazu schreibt Luther: „Deshalb ist es wiederum ein schwerer Irrthum der Theologen, welche sich um eine läßliche Sünde kaum durchaus nichts kümmern und schwatzen, daß eine läßliche Sünde Gott nicht beleidige oder nur läßlicher Weise beleidige. Wenn es eine so geringfügige Beleidigung ist, warum wird der Gerechte kaum selig? Warum hält der Gerechte das Gericht Gottes nicht aus und kann nicht für gerecht erklärt werden? Warum werden wir so ernstlich und nicht läßlicher noch uneigentlicher Weise zu beten genöthigt: „Vergib uns unsere Schuld“, und: „Dein Wille geschehe, dein Reich komme, geheiligt werde dein Name“? Ist es nicht klar, daß diese elenden Theologen (Theologistas) zuerst die Furcht Gottes in den Menschen auslöschen, und dann Kissen und Pfühle unter ihre Arme und Häupter legen, wie Hesekiel (13,18.) sagt, und ihnen das Gebet erlassen und den Geist dämpfen? Es ist nicht eine Sache von geringer Bedeutung (sie mögen sagen, was sie wollen), wenn man von Gottes Gesetz und Willen auch nur ein Haarbreit abweicht, noch ist die göttliche Barmherzigkeit etwas Geringes, welche die läßliche Sünde verzeiht. So halten jene das Gesetz und den Willen und die Barmherzigkeit Gottes fast für etwas Unkräftiges, so daß das Gebet nicht brünstig sein und die Dankbarkeit der Gerechten nicht entbrennen kann. Lasset uns also auf der Hut sein vor diesem pharisäischen Sauerteig.“ Ferner schreibt Luther in der Erläuterung seiner „Sätze vom Ablaß wider Tetzel im Jahre 1518, zur 76. Thesis“ (W. Tom. XVIII 518): „Hier hätte ich bei der läßlichen Sünde verweilen sollen, die heutzutage so gering geachtet wird, als ob sie fast gar keine Sünde sei, und ich fürchte, zu großem Verderben vieler, die in ihren Sünden sicher schnarchen und nicht sehen, daß sie grobe Sünden begehen. Ich muß gestehen: so lange ich die scholastischen Lehrer gelesen habe, habe ich niemals verstanden, was und wie groß eine läßliche Sünde wäre; ob sie selber es verstehen, weiß ich nicht. Das sage ich kurz: wer nicht beständig so fürchtet und handelt, als ob er voll Todsünden wäre, der wird kaum jemals selig werden; denn die Schrift sagt (Ps. 143,2.): „HErr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht.“ Denn nicht bloß die läßlichen Sünden, wie man sie jetzt überall nennt, sondern (S. 320) selbst die guten Werke können Gottes Gericht nicht ertragen, sondern bedürfen der verzeihenden Barmherzigkeit, denn es heißt nicht: Gehe nicht ins Gericht mit deinem Feinde; sondern: mit deinem Knechte und deinem Kinde, das dir dient. Diese Furcht also sollte uns lehren, nach der Barmherzigkeit Gottes zu seufzen und auf sie zu vertrauen; wo sie fehlt, da fangen wir an, mehr auf unser Gewissen, als auf Gottes Barmherzigkeit zu vertrauen, indem wir uns keiner groben Sünde bewußt sind, die wir gethan haben sollten; und solche werden in ein erschreckliches Gericht fallen.“ Darin besteht die wahre evangelische Predigt, daß man die Sünde möglichst groß mache. Aufs allerstrengste muß der Prediger über die Sünde urtheilen; er soll Gottes Urtheil darüber verkündigen. Auch diese läßlichen Sünden dürfen Sie nicht gering achten, sondern immer bedenken, daß Sie alle Tage so viel sündigen, daß Sie deswegen in die Hölle gehören, nur daß Sie Gott nicht in die Hölle werfen will, die Sie an Christum glauben. Aber das sollen Sie sich vorhalten: „Ich gehöre in die Hölle und nicht in ein sanftes Ruhebett, wenn Gott nach seiner Gerechtigkeit urtheilen wollte.“ Sie sollen sich so fürchten und so handeln, als ob Sie voller Todsünden wären! Wenn einer leichtfertig sagt: „Mein Gewissen beißt mich nicht!“, das ist schrecklich. Schlimm genug, daß dein Gewissen ruhig bleibt, wenn Gottes Wort dich verurtheilt! Dannhauer sagt (Hodosophia, p. 195): „Die Sünde ist so groß, als der ist, welcher dadurch beleidigt wird.“ Das ist ein wichtiges Axiom! Gott ist nun hier der Beleidigte, also ist in der Sünde eine unendliche Bosheit und eine unermeßliche Schuld. Daß keine Sünde an sich läßlich sei, lehrt uns endlich auch die christliche Erfahrung. Wer ein wahrer Christ ist, wird sagen: „Ja, das habe ich selbst erfahren. Sobald ich mich versündigt habe, bin ich unruhig. Das bleibt so lange, bis ich Gott um Vergebung gebeten habe.“ Das Gewissen meldet sich gleich bei einem wahren Christen. Und wenn ein Kaufmann auch nur fünf Cents fremdes Gut unter seiner Waare weiß, so läßt ihm das keine Ruhe. Wenn ein Christ auch seinen Bruder nur gekränkt hat, oder ihn schnöde abgewiesen, so spricht das Gewissen: „Du hast nicht recht gethan.“ Wenn er jemals das geringste Aergerniß gegeben hat durch sein sündliches Verhalten, so geht er hin und sagt: „Höre, da habe ich nicht recht gethan!“ Dann erst wird er wieder ruhig. Merkwürdig! Also ist die läßliche Sünde auch etwas Böses, ein Feuer, welches auflodern kann und in die Verdammniß stürzen. Denn die kleinen Sünden werden groß dadurch, daß man sie klein achtet. (S. 321)