C. F. W. Walther (1811-1887):

Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.


Dreiunddreißigste Abendvorlesung. (4. September 1885.)

 

Das erste einem Theologen unumgänglich Nöthige ist, meine Freunde, wie sich von selbst versteht, dieses, daß er eine vollständige, genaue und klare Erkenntniß aller einzelnen Lehren der göttlichen Offenbarung habe. Einen Mann einen Theologen zu nennen, der diese Kenntniß nicht hat, ist ein Selbstwiderspruch. Die Theologen sollen ja die Seelenärzte der Menschheit sein. Ein Arzt des Leibes nun muß ja vor allem die Arzneien kennen, welche die Natur zur Heilung der Leibeskrankheiten darbietet. So muß auch der Theolog als ein Seelenarzt die geistlichen Arzneien wohl kennen, welche Gottes Wort uns dargereicht hat gegen die Seelenkrankheit; aber diese geistlichen Arzneien sind eben nichts anderes, als die von Gott zur Seligkeit geoffenbarten Lehren. – So unumgänglich nothwendig aber darum einem Theologen eine genaue, vollständige, klare Kenntniß jeder einzelnen Lehre der christlichen Offenbarung ist, so hat er doch damit keineswegs schon alles, was er bedarf. Nicht weniger nöthig ist ihm dann hauptsächlich noch zweierlei: nämlich erstens, daß er auch die gegenseitigen Verhältnisse der Lehren zu einander wohl kenne, um sie recht anwenden zu können, und zweitens, daß er auch Muth, Liebe und Lust zu seinem theologischen Beruf habe. Denn wie ein Arzt des Leibes, wenn er zwar allerlei heilkräftige Arzneien kennt, die an sich heilkräftig sind, die er aber aus Unwissenheit so vermischt, daß die eine die andere (S. 332) aufhebt, anstatt die Leibeskrankheit zu heilen, den Tod seiner Patienten mit seiner Mischung beschleunigen wird, so wird auch ein Theolog, welcher nicht weiß, welche Lehren er zu verbinden und welche Lehren er sorgsam zu scheiden hat, gar leicht den Seelen mehr Schaden bringen, als ihnen helfen. Und endlich, wie ein Arzt nur dann seine schweren Pflichten erfüllen wird, wenn er Lust und Liebe gerade zu dieser seiner Arbeit hat und nicht fragt nach schnödem, irdischem Lohn, so wird auch ein Theolog nur dann treu in seinem Beruf sein, wenn er für seinen Beruf begeistert ist und vor allem seinen Lohn darin erkennt, daß ihm Gott hilft, Seelen zu retten, dem Reich des Satans Abbruch zu thun, das Reich Gottes aufzubauen und den Himmel zu bevölkern. Je und je habe ich es daher auch für meine heilige Pflicht gehalten, nicht nur die reine Lehre vorzutragen, nach der Gnade, die mir gegeben ist, in den Vorlesungen über Dogmatik, sondern ich habe es auch für nöthig gehalten, wenigstens einmal in der Woche eine Stunde auszuwählen und anzuwenden dazu, die ganze liebe Concordia um mich zu versammeln und ihr dann die Wichtigkeit jener Lehren, ihre Bedeutung und ihre praktische Anwendung zu zeigen, und dann vor allen Dingen Ihnen auch ein fröhliches Herz für Ihren schweren Beruf zu machen. Wir nennen diese Freitagsabendstunden, welche gleichsam den Schluß des wöchentlichen Unterrichtes bilden, „Lutherstunden“, vor allen Dingen darum, weil ich in denselben vor allen andern sonderlich unsern lieben Vater Luther, den von Gott ausersehenen Reformator der Kirche und unsern gemeinsamen Lehrer der Kirche, reden lasse. Und Gott hat bisher Gnade gegeben, daß meine lieben Studenten auch gerne diese letzte Abendstunde besucht haben, daß sie, wie mir mancher heilig und theuer versichert hat, darin gesegnet worden sind, nicht nur, daß sie klarer in der Erkenntniß der christlichen Lehre, sondern daß sie auch fester geworden sind in ihrem Glauben an die Vergebung der Sünden, an ihre Kindschaft bei Gott, an ihre Seligkeit. So hoffe ich denn zu Gott, er werde helfen, daß auch die heute neu eintretenden Commilitonen dasselbe erfahren! Ich will Gott darum bitten, er wolle nur helfen, daß ich ein gutes Wort rede und daß dasselbe eine gute Stätte finde. Aber bedenken Sie wohl: soll dieses mein Gebet erhört werden, so bedarf es auch Ihrer Bitte zu Gott, daß Sie es mögen erfahren. Denn Sie sind hier nicht dazu da, um irdische Wissenschaften zu lernen, sondern um in einer Lehre heimisch zu werden, die zuerst Sie selbst selig macht, und durch die Sie viele andere sollen selig machen. Es ist darum ein gar großer Ernst nöthig. Da gilt es die Schuhe des irdischen, fleischlichen Sinnes auszuziehen und sich mit Maria zu den Füßen JEsu zu setzen, um von ihm zu hören, worin das (S. 333) Eine besteht, was noth thut. Ach, das gebe Gott! Und mir helfe Gott, daß ich Ihnen ein Gehülfe sei für alle Zeiten! Wir haben im letzten Jahre den Gegenstand vom Unterschied des Gesetzes und des Evangeliums auf Grund einer Serie von 25 Thesen behandelt. Es sind nun noch fünf Thesen übrig, und dieselben sind durchaus nicht unwesentlich. Und darum müssen wir dieselben zu Ende bringen, ehe wir mit einem andern Gegenstand beginnen. Ich hoffe, daß die Neueintretenden, wenn sie auch nur ein Fragment bekommen, doch manches finden, wodurch ihr Geist genährt wird, wodurch sie gestärkt werden im Glauben, wodurch sie abgezogen werden von der Welt und dem Dienst der Sünde, und hingezogen werden zu Christo. Denn sind wir, die wir hier sitzen, nicht wahre Christen, so sind wir ganz verlorne Menschen, so kann Gott nur im Zorn auf uns herabsehen. Denn was kann schrecklicher sein, selbst kein Christ sein und dann für die Zeit sich belohnen lassen, die man als Pastor in einer Gemeinde zubringt? Ich hoffe, daß Sie alle wahre Christen sind, oder daß doch das liebe Wort Gottes Sie angezogen hat, und daß, wenn es mit göttlicher Gewalt an Sie wird herantreten, dasselbe einen tiefen, bleibenden Eindruck mache, und daß Sie einst, wenn Sie diese Anstalt verlassen, nicht nur ausgerüstet sind mit schönen theologischen Kenntnissen, sondern auch ein brennendes Herz haben, zu verkündigen das Große, was der HErr gethan hat an der Menschheit. Ich hoffe nun, die Studenten des letzten Jahres werden es sich nicht verdrießen lassen, wenn ich alle Thesen, die bereits erörtert worden sind, noch einmal vorlese, damit die lieben Neueintretenden doch wissen, um was es sich gehandelt hat und von welcher Bedeutung die übrigen Thesen sind. (Die ersten zwanzig Thesen wurden hierauf vorgelesen und zu jeder Thesis einige kurze Bemerkungen und Erläuterungen gemacht.) Der Glaube wächst nicht aus uns selbst heraus. Der wahre Glaube ist so fest, daß, wenn jetzt der Himmel einfiele und die Hölle sich unter uns aufthäte, wir dennoch sagen könnten: „Himmel, falle ein, und Hölle, thue dich auf! – Ich glaube an JEsum Christum, den wahrhaftigen Gott, der mich verlornen und verdammten Menschen erlöset hat mit seinem theuren Gottesblut! Das kann mir kein Teufel und keine Hölle rauben.“ Jedoch der Glaube der Heuchler zerfließt wie der Märzschnee an der Sonne. Manche meinen, sie seien recht strenge Bibellutheraner, wenn sie behaupten: „Wer kein Lutheraner ist, der kann nicht selig werden. Er muß wenigstens in der letzten Stunde noch sich zum Lutherthum bekennen, sonst muß er zur Hölle fahren!“ Aber ein solcher, der das behauptet, ist kein echter Lutheraner, der ist abgefallen vom Lutherthum. Das lehren wir (S. 334) nicht, sondern, daß der Mensch gerecht und selig wird aus Gnaden, und dazu wird er allerdings angewiesen in der lutherischen Kirche. Wenn aber einer in einer Secte lebt und die Wahrheit liebt, so kann er ein besserer Christ sein, als mancher unsrer Lutheraner. Christus herrscht überall, er herrscht auch unter seinen Feinden.

 

Thesis XXI.

Gottes Wort wird siebzehntens nicht recht getheilt, wenn man lehrt, daß die Sacramente ex opere operato heilskräftig wirken.

 

Eine überaus wichtige Thesis! Wenn man meint, daß die Sacramente heilskräftig werden ex opere operato, wenn man sie nur gebraucht, so ist das ein großer Irrthum. Das lehren die Papisten. Sie sagen: „Wenn du dich taufen läßt, und bist selbst noch nicht ein gläubiger Mensch, wenn du nur nicht gerade in schweren Todsünden lebst, so hilft dir die Taufe doch etwas. Die bringt dir Gnade, macht Gott dir gnädig.“ Und dasselbe sagen sie auch von der Messe. Sie lehren: „Wenn jemand Messe hört, so bekommt er allemal eine Gnade. Beim Abendmahl bekommt er jedesmal eine Gnade, und zwar darum, weil er hingeht.“ Das ist eine gottlose, schändliche Lehre, die dem Wort Gottes schnurstracks widerspricht, und zwar erstens im Allgemeinen dem Evangelium, welches uns lehrt, daß der Mensch allein aus Gnaden vor Gott gerecht und selig wird und dann erst Gott gefällige Werke thun kann. Röm. 3,28.: „So halten wir es nun, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Wenn ich aber dadurch gerecht werde, dadurch die Gnade bekomme, daß ich mich taufen lasse, oder zum heiligen Abendmahl gehe, so werde ich durch Werke gerecht, und zwar durch ein ganz miserables Werk. Denn wenn wir die Taufe und Communion ansehen, insofern es ein Werk ist von unsrer Seite, so ist es ein ganz geringes Werk, das kaum der Erwähnung werth ist. Ist es nun nicht scheußlich, zu lehren: „Nach der heiligen Schrift bekomme ich Gnade, wenn ich wenigstens die Sacramente gebrauche“? Nein, wenn du nicht im Glauben hinzugehst, so verdammt dich deine Taufe und deine Communion. Sie sind bloß deswegen Gnadenmittel, weil mit diesen äußerlichen Zeichen eine Verheißung verbunden ist. Diese Gnadenverheißungen kann ich aber nur durch den Glauben ergreifen. Daß ich mich mit Wasser begießen lasse, hilft mir gar nichts; daß ich gesegnetes Brod und gesegneten Wein genieße, hilft mir gar nichts, auch nicht deswegen, weil ich im heiligen Abendmahl wirklich den Leib und das Blut des HErrn (S. 335) empfange; es hilft mir das gar nichts, ja, schadet mir nur, wenn ich ohne Glauben komme, denn ich werde dann schuldig an dem Leibe und Blute des HErrn. Alles kommt darauf an, daß ich glaube, daß ich nicht sowohl auf das Wasser sehe, als vorerst auf die Verheißung, welche Christus an das Wasser der Taufe geknüpft hat; dann gehört auch das Wasser dazu, denn nur daran hat er seine Verheißung gebunden. So ist es auch mit dem heiligen Abendmahl. Mancher denkt, wenn er zum Tisch des HErrn getreten ist: „Nun, da hab ich auch wieder ein Werk gethan, was Gott will, und er wird es mir auch anrechnen!“ Das ist gottlos, denn der HErr sagt: „Nehmet, esset, das ist mein Leib, der für euch gegeben ist! Nehmet hin und trinket alle daraus, dieser Kelch ist das Neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ In diesen Worten liegt ein ganzer Himmel voll Gnade, und darauf muß unser Glaube gerichtet sein. Das bloße Essen des Brodes und Weines und des Leibes und Blutes Christi wirkt gar nichts Gutes in uns. Die Gnade wirkt nicht chemicalisch, auch nicht mechanisch, sondern immer nur durch das Wort, indem der liebe Gott sagt: „Ich will dir deine Sünden vergeben!“ Daran halte ich mich. Wenn ich mich daran im Glauben halte, so kann ich auch am jüngsten Tage getrost auftreten und, wenn mich Gott verdammen wollte, sagen: „Du kannst mich nicht verdammen! Du wärest sonst ein Lügner! Du hast mich ja aufgefordert, mein ganzes Vertrauen auf deine Zusage zu bauen! Das habe ich gethan, darum kannst und wirst du mich nicht verdammen.“ Wenn also Gott seine Christen noch am jüngsten Tage versuchen wollte, so würden alle Heiligen sagen: „Nein, ich komme nicht in die Hölle! Ich kann nicht hineinkommen. Hier habe ich Christum, meinen Bürgen und Mittler. Das Lösegeld, welches der Sohn Gottes bezahlt hat für meine Sündenschuld, das mußt du anerkennen.“ Röm. 14,23.: „Was nicht aus dem Glauben gehet, das ist Sünde“ – Wie kann also der, welcher ohne Glauben die Sakramente braucht, Gott dadurch gefällig werden, ja, dadurch Gottes Gnade bekommen, da er, sobald er etwas thut, nur sündigt, weil es nicht aus dem Glauben geht? Hebr.4,12.: „Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig, und schärfer denn kein zweischneidig Schwert, und durchdringet, bis daß es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.“ Die falschen Lehrer sprechen von den Sacramenten: „Das geben wir zu, das bloße Predigen und Predigthören hilft dir nichts, wenn du das Wort nicht im Glauben annimmst; du wirst vielmehr eine schwere Verantwortung haben.“ „Aber“, sagen sie, „anders ist es mit den Sacra- (S. 336) menten. Die haben den großen Vorzug, daß, wenn ich sie nur brauche, Gott in Gnaden in mir wirkt.“ Das ist eine gottlose Lehre! Sacramente sind eben nichts anderes als das Wort Gottes mit Zeichen verbunden. Augustin nennt die Sacramente so schön: „verbum visibile, das sichtbare Wort“. So wenig mir das Wort Gottes hilft, wenn ich nicht glaube, so wenig hilft es mir etwas, wenn ich getauft werde und ich glaube nicht. Wenn ich sage: „Du sollst an deine Taufe glauben“, so will ich eben sagen: „Du sollst dem lieben Gott glauben, der an die Taufe eine so herrliche Verheißung geknüpft hat.“ Sonst heißt es die Taufe schändlich mißbraucht, wenn ich denke: „Das bloße Werk, daß ich meinen Kopf habe hergehalten, gefällt Gott wohl.“ Ein Sacrament ist verbum visibile. Hilft mir nun das Wort nur, wenn ich daran glaube, so helfen mir auch die Sacramente nur, wenn ich mich im Glauben daran halte. Darum ist es ganz grundlos, wenn die Schwärmer sagen: „Die Lutheraner dringen nicht auf die Bekehrung!“ – „Wieso denn nicht?“ – “Weil sie sagen, man soll sich auf die Taufe und auf das Abendmahl verlassen.“ Aber das lehren wir ja gar nicht, sondern: „In der Taufe und im Abendmahl verheißt Gott dir etwas. Da halte dich an die Verheißungen Gottes und zweifle nicht daran.“ Das lehren wir. Aber ich kann mich nur daran halten, wenn ich ein armer Sünder geworden bin. Wenn ich sage: „Du mußt dich deiner Taufe trösten“ und wenn ich sage: „Du mußt dich zu JEsu Christo bekehren“, so ist das ein und dasselbe. Es kann einer sich zwar auch einbilden, er glaube, aber wenn eine kurze Anfechtung kommt, ist es aus damit. Diesen wahren Glauben gibt uns nur der Heilige Geist.

 

- FORTSETZUNG -