C. F. W. Walther (1811-1887):
Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.
Siebente Abendvorlesung. (7. November 1884.)
Als ich vor vierzehn Tagen Ihnen mittheilte, Luther sage, daß kein Mensch ohne Erleuchtung des Heiligen Geistes Gesetz und Evangelium recht von einander unterscheiden könne, ja, daß Luther selbst ein geringer Anfänger in dieser hohen, herrlichen Kunst sei, so hatte ich dabei durchaus nicht die Absicht, Sie niederzuschlagen und zu entmuthigen, sondern einerseits diejenigen, die bisher gemeint hatten, es sei eine ganz leichte Kunst, von dieser großen Selbsttäuschung zu heilen, andererseits diejenigen, welche denken: „Nun, wenn es Luther selbst so schwer geworden ist, sich diese Kunst anzueignen, so werde ich viel weniger tüchtig dazu sein“, von ihrem Kleinmuth zu befreien und sie aufzumuntern. Denn bedenken Sie: Wenn ein Mensch nur in der Schule des Heiligen Geistes und wahrer Christenerfahrung Gesetz und Evangelium lernt recht von einander scheiden, so kann einer also alle möglichen Schulen durchgemacht haben – ist er nicht in dieser Schule, in der Schule des Heiligen Geistes gewesen, so kann er sich diese Kunst nicht aneignen. Er darf nicht denken, wenn von der Schwierigkeit in diesem Punkt geredet wird, so bezöge sich das nur auf Schwächlinge, nicht aber auf begabte und kenntnißreiche Jünglinge. Im Gegentheil, je begabter einer ist und (S. 47) je kenntnißreicher einer ist, desto leichter kommt einer auf Hochachtung seiner selbst, auf Selbstvertrauen, nimmt die Sache leicht und kommt wohl daher nie zur Kenntniß, wie diese Lehren recht mit einander zu verbinden und von einander zu unterscheiden sind. Denken Sie nur an Chrysostomus, der ein großer Gelehrter, ein ausgezeichneter Redner war, sodaß man ihn deswegen, obgleich er ursprünglich Johannes hieß, den Goldmund nannte. Er schien die Gabe zu haben, mit seinen Zuhörern machen zu können, was er wollte. Wollte er sie fröhlich machen, so gelang ihm das; wollte er sie traurig haben, so stand auch das in seiner Gewalt; wollte er sie zum Jauchzen bringen, so war ihm auch das möglich; wollte er sie zum Klagen, Weinen, Seufzen bringen, so stand auch das in seiner Macht. Und doch hat der gute Mann im Ganzen wenig gewirkt, weil er Gesetz und Evangelium so schlecht von einander unterschied, weil er beide Lehren fort und fort so gefährlich vermischte. Ein anderes Beispiel haben Sie an Andreas Osiander, der ein gelehrter, ein scharfsinniger Mann, ein Redner war, der seines Gleichen suchte. Anfangs schied er Gesetz und Evangelium ganz vortrefflich. Das sieht man aus einem Entwurfe von ihm zur Augsburgischen Confession. So stand er aber nur, so lange er gerne Luthers Schüler sein wollte. Aber er wurde stolz auf seine schönen Gaben und seine herrlichen Kenntnisse und so wurde er endlich ganz blind. Die Folge war, daß er in die allergreulichste Vermischung von Gesetz und Evangelium fiel. Er lehrte nämlich, der Mensch werde nicht vor Gott gerecht durch die Gerechtigkeit, die ihm Christus durch sein bitteres Leiden und Sterben erworben habe, sondern dadurch, daß Christus mit seiner wesentlichen göttlichen Gerechtigkeit in dem Menschen wohne. O lassen Sie sich daher warnen! Wenn nun ein Mensch in der Schule des Heiligen Geistes lernt, Gesetz und Evangelium recht zu scheiden und recht zu theilen, so folgt, daß die Allerschwächsten, wenn sie nur wahre Christen sind, wenn sie nur selbst erfahren haben die Kraft des Gesetzes und den Trost des Evangelii, die Macht des Glaubens, am besten vorbereitet sind, um dann, was sie selbst erfahren haben, auf Andere zu appliciren. Daher oft die am allerschwächsten Begabten unter den Predigern am allerbesten predigen. Ohne Zweifel haben einst manche einfältige, arme, unangesehene, unbeachtete Presbyter auf dem Land besser Gesetz und Evangelium geschieden zur Zeit des Chrysostomus, als dieser große Orator in der Weltstadt Constantinopel, besser als jener philosophisch gebildete Clemens Alexandrinus, besser als jener Polyhistor Origenes. Wir finden das auch zur Zeit der Reformation. Ein einfältiger Pfarrer Cordatus, ein vertrauter Freund Luthers, hat ohne Zweifel Gesetz und Evangelium tausendmal (S. 48) besser geschieden, als Melanchthon, der praeceptor totius Germaniae, obgleich ihn dieser spottweise Quadratus, den Vierschrötigen, nannte, weil er Melanchthon entlarvt hatte, als er abirrte in der Lehre vom freien Willen. Darum wer zur Liebe seines HErrn JEsu gekommen ist und zur Erfahrung der Kraft des Gesetzes und des Evangeliums, der wird, so schwierig auch immer diese Kunst der Scheidung des Gesetzes und Evangeliums ist, diese Kunst am allerbesten lernen. Heute wollen wir nun darüber nachdenken, daß Gesetz und Evangelium recht zu unterscheiden, auch die höchste und schwierigste Theologenkunst sei, daß alles andere, was ein Theolog wissen muß, geringer ist als diese Kunst. 2 Tim. 2,15.: „Befleißige dich Gott zu erzeigen einen rechtschaffenen und unsträflichen Arbeiter, der da recht theile das Wort der Wahrheit.“ Wenn der Apostel hier zu Timotheus sagt, er solle sich befleißigen, so gibt er doch dadurch zu verstehen, daß es eine große, schwierige Kunst ist, Gesetz und Evangelium recht zu scheiden. Luc. 12,42-44.: „Wie ein großes Ding ist es um einen treuen und klugen Haushalter, welchen der Herr setzt über sein Gesinde, daß er ihnen zu rechter Zeit ihre Gebühr gebe! Selig ist der Knecht, welchen sein Herr findet also thun, wenn er kommt. Wahrlich, ich sage euch, er wird ihn über alle seine Güter setzen.“ – Das nennt der HErr ein großes Ding, nicht wenn er von Gottes Wort überhaupt redet, oder, um beim Bild zu bleiben, wenn er jedem etwas Speise gibt, die ihm zur Austheilung übergeben ist; nein, wenn er zu rechter Zeit einem jeden seine Gebühr gibt, jedem gerade das gibt, was er ihm nach seinem Seelenzustand geben muß. Das muß auch zu rechter Zeit geschehen, denn der ist ein schlechter Haushalter, der dem Gesinde etwas und nach längerer Unterbrechung wieder etwas gibt und nicht fragt, wie viel und wie oft er ihnen geben muß. So soll ein Prediger die Kunst recht verstehen, einem jeden zu rechter Zeit zu geben, was ihm gerade nöthig ist, sei es Gesetz oder sei es Evangelium. Daß diese Kunst nur durch den Heiligen Geist gelernt wird, sehen wir ans: 2 Cor. 2,16.: „Und wer ist hierzu tüchtig?“ und Cap. 3,4-6.: „Ein solches Vertrauen aber haben wir durch Christum zu Gott. Nicht daß wir tüchtig sind von uns selber, etwas zu denken, als von uns selber; sondern daß wir tüchtig sind, ist von Gott. Welcher auch uns tüchtig gemacht hat, das Amt zu führen des Neuen Testaments, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes.“ – Von Gott allein erwartet der Apostel Tüchtigkeit zu dieser hohen, schweren Kunst. Unter dem Buchstaben ist zu verstehen das Gesetz, und unter dem Geist das Evangelium. Es wird (S. 49) uns ganz klar bezeugt, daß beides neben einander recht zu predigen sei. Und dazu hat kein Mensch von Natur die Tüchtigkeit, Gott selbst muß ihm diese geben. Er darf aber daher auch den Geist der Welt nicht mehr haben. Wer noch den Geist der Welt in sich trägt, kann nimmermehr diese Unterscheidung recht lernen. Denn der Geist Gottes kann nicht in einem Herzen wohnen, wo auch der Geist der Welt noch einen Platz einnehmen will und denselben behauptet. Daher kann die Welt den Geist nicht empfangen. Will also jemand ein rechter dokimos werden, so muß er erst ein Christ werden. Er kann wohl vielleicht die Dogmen alle richtig vortragen, aber das ist nicht genug. Er muß auch verstehen, einer jeden der Seelen, die vor ihm versammelt sind, das zu geben, was sie braucht. Das ist möglich, wenn der Prediger genau erforschen kann, wie es mit jeder Seele steht. Das ist freilich etwas sehr Schwieriges, gerade wie bei einem Arzt die Diagnosis das Allerschwierigste ist. Es ist nicht genug, daß du das lebendige, scharfe Wort Gottes brauchst. Du kannst mit diesem scharfen Schwert gar leicht die Seelen tödten, wenn du ihnen nicht gibst, was nöthig ist. Darum muß ein Prediger unterscheiden können, ob er einen Heuchler vor sich hat, oder einen rechtschaffenen Christen; ob einen noch geistlich Todten, oder einen von dem Sündenschlaf Erwachten; ob er einen von Teufel und Fleisch Angefochtenen, oder ob er einen vor sich hat, der wegen seiner Bosheit in die Gewalt des Teufels dahingegeben ist. Daher wird einer, der keine Erfahrung hat, gar leicht einen Heuchler für einen wahren Christen halten etc. Man muß nun so predigen, daß jeder merkt: „Das gilt dir! Er hat so den Heuchler beschrieben, gerade wie ich bin.“ Oder der Pastor hat den Angefochtenen so geschildert, daß der Angefochtene nicht leugnen kann: „So steht es mit mir.“ Auch der Bußfertige muß bald merken: „Der Trost gilt mir, den soll ich mir aneignen.“ Der Erschrockene muß denken: „O, das ist ein süßes Wort, das ist für mich.“ Ja, auch der Unbußfertige muß sich sagen können: „Ja, das ist ganz genau mein Bild.“ Der Prediger muß daher recht das Innere jedes Zuhörers abzumalen verstehen. Wenn man bloß so objectiv die verschiedenen Lehren darstellt, so hilft das nicht genug. Wer zwar orthodox ist, wer zwar die reine Lehre gefaßt hat, er steht aber nicht selbst im Verkehr mit Gott, hat noch nicht seine Rechnung mit Gott abgeschlossen, hat noch nicht Gewißheit erlangt, ob ihm seine Sündenschuld vergeben ist oder nicht, wie kann denn der eine christliche Predigt machen? Ja, es gilt auch hier wie bei den Heiden das Wort: „Pectus disertum facit“, „das Herz macht beredt.“ Ja, nur in der Schule des Heiligen Geistes, in der Anfechtung kann man recht lernen, Gesetz und Evangelium zu unterscheiden. Deswegen haben die Leute auch Luthers (S. 50) Predigten so gerne zum Lesen. Anfangs wollen einem zwar seine Predigten nicht gefallen. Aber wenn die Leute sich überwinden, weil der Prediger vielleicht einmal gesagt hat: „Das ist das köstlichste Predigtbuch“, so gefällt es ihnen endlich so, daß sie von gar nichts anderm etwas wissen wollen. Es ist auch in der That eine Lust, in Luthers Predigten zu lesen. Man findet sich selbst auf jeder Seite. Erst schreckt er einen so fürchterlich, daß einem Hören und Sehen vergeht, erst wirft er einen in die Tiefe hinab; kaum hat er das aber gethan, so spricht er: „Glaubst du das?“ „Ja!“ „Gut, so komm wieder herauf!“ Da ist Donner und Blitz, aber alsbald auch das sanfte Wehen des Heiligen Geistes im Evangelium. Man kann gar nicht widerstehen, man muß sagen: „Das ist gutes, kräftiges, tägliches Brod, das ist die rechte Kost für meine Seele.“ Luther zeigt einem nicht einen langen Weg, gibt nicht viele Lehren, wie man herauskommen könne, sondern wenn er einen dahin gebracht hat, daß er sieht, er ist ein armer Sünder, so sagt er: „Halt, Christi Gnade ist größer als aller Welt Sünde.“ Er predigt fort und fort Gesetz und Evangelium neben einander, so daß das Gesetz durch das Evangelium viel schrecklicher illustrirt wird und das Evangelium durch das Gesetz viel süßer und trostreicher gemacht wird. Das müssen Sie von dem lieben Vater Luther lernen. Da hören die Leute auch darauf. Das interessirt sie, da merken sie, in dieser Stunde will der Prediger sie herausholen aus dem Verderben, so daß sie fröhlich aus der Kirche gehen müssen. Wie sehr muß sich aber ein Prediger da in Acht nehmen, daß er nichts Falsches sagt. Darum muß man seine Predigt immer noch einmal durchnehmen und sich überlegen: „Ist das alles auch ganz richtig? Ist es weder gegen das Gesetz noch gegen das Evangelium?“ So würde es z. B. verkehrt, wenn einer sagte: „Wer sich noch vor dem Tod fürchtet, der ist kein Kind Gottes; denn der Christ fürchtet sich nicht vor dem Tode.“ Das ist eine große Lüge. Das ist wohl recht, daß sich die Christen nicht fürchten, vor Gott hinzutreten, aber sie fürchten sich noch vor der Verwesung und Vermoderung im Grabe etc. Einen solchen Satz muß ein Prediger gleich streichen. Ferner, junge Leute, die gerne etwas wirken wollen, gerne etwas ausrichten wollen (und es ist ja erfreulich, wenn das der Fall ist), sprechen gerne von der Seligkeit eines Christen vor den Weltkindern. Aber dann gehen sie oft über die Grenze hinaus und sagen: „O die armen Menschen, die Weltkinder haben gar keine Freuden, haben gar keinen Frieden, haben gar keine Ruhe.“ Das ist ja gar nicht wahr. Hören das Weltkinder mit an, so denken sie: „Der einfältige Prediger! Was weiß denn der? Wir haben wohl Freude und Ruhe.“ Er muß es anders ausdrücken, er muß sagen, daß die Weltkinder wohl Freuden (S. 51) und Vergnügungen haben, aber da kommen auf einmal solche Gedanken: „Wenn es nun doch so wäre, wie die Christen sagen! Wenn die doch Recht hätten, wie wird es dir dann ergehen?“ Bei Saus und Braus erscheint der Gedanke an den Tod wie ein Gespenst und verbittert die Freude. Dann müssen solche Leute gestehen: „Ja, der Mensch kann einen wirklich abmalen!“ Oder wenn Sie die Christen so abmalen, daß dieselben so glücklich sind und gar keine Noth haben, so ist das wieder nicht wahr. Die Christen haben viel mehr Angst und Noth und Trübsal als die Welt. Aber dennoch ist der Christ viel seliger. Wenn diese Nacht Gott kommt und will seine Seele, so denkt er: „Gott Lob, nun ist es aus! Nun bin ich bald bei meinem Heiland!“ In der Trübsal denkt er: „Es dauert ja nicht lange, dann komme ich nach Hause, dann ist alles Elend und Leid dieser Erde verschwunden und vergessen.“ Die Christen weinen und die Engel freuen sich über sie. Sie haben Angst und Schrecken und Gott meint es herzlich gut mit ihnen, er sagt: „Ihr seid meine lieben Kinder.“ Das sind nur einige Beispiele dafür, wie man nicht über die Grenze hinausgehen darf, wenn auch in der besten Absicht. Das Zweite, was Sie bei der Abfassung Ihrer Predigten zu beachten haben, ist, daß Sie auch nichts Mißverständliches sagen. Z. B.: „Wer mit Willen und Wissen sündigt, der fällt aus der Gnade“, ist mißverständlich; denn auch wahre Christen sündigen zuweilen, indem sie es wissen und wollen, aber in einer solchen Lage, wenn sie so zu sagen von der Sünde innerlich bestürmt werden, oder auch von außen. Das nennt man Uebereilungssünden. Mancher hat ein zorniges Temperament, ist sonst aber liebreich; aber da kommt ihm etwas in den Weg, und auf einmal läuft es ihm über und er stößt zornige Worte aus. Da straft ihn dann der Geist Gottes: „Siehst du, was du für ein Mensch bist!“ und er bittet seinen Gott wieder um Vergebung. Das ist richtig, wenn der Christ wissentlich sündigt, so betrübt er allemal den Heiligen Geist; der Heilige Geist will da nicht dabei sein. Deshalb muß man auch den Leuten sagen: „Das ist ein gefährlicher Weg! Da zieht sich der Heilige Geist zurück, da werdet ihr zurückgeworfen, anstatt weiter zu kommen. Und wenn ihr nicht in wahrer Buße fortfahrt, so kann diese Sünde euch ins Verderben bringen.“ Ebenso wäre es mißverständlich, wenn einer sagt: „Gute Werke sind nicht nöthig, sondern nur der Glaube.“ Die guten Werke sind wohl nöthig. Wenn ich sage: „Sie sind nicht nöthig zur Seligkeit“, so ist das richtig. Aber ich kann, wenn ich keine guten Werke thue, nicht auf dem rechten Wege bleiben. Und dann hat sie Gott ja auch geboten. Es ist sein Wille, daß wir gute Werke thun sollen. (S. 52) Mißverständlich wäre es auch, zu sagen: „Die Sünde schadet einem Christen nichts.“ Ja freilich, aus Schwachheit begangen, stürzt sie nicht sogleich in Gottes Ungnade, aber sie schadet doch. „Es ist nichts Verdammliches an denen, die in Christo JEsu sind“, sagt Paulus; er sagt nicht: „Nichts Sündliches.“ Kurz, man kann nicht vorsichtig genug predigen. Aber auch das ist verkehrt, wenn man manchmal etwas nicht weiter erklärt und ausführt. So hörte Aegidius Hunnius, als er noch ein Gymnasiast war, einmal in einer Kirche die Worte: „Aber es gibt doch eine Sünde, die kann nicht vergeben werden. Das ist die Sünde wider den Heiligen Geist.“ Dieses Wort fuhr wie ein Dolch in sein Herz. Denn er dachte gleich, die Sünde hätte er begangen. Ja, es entstand in Folge davon in ihm der Gedanke, er wolle sich das Leben nehmen. Er erinnerte sich nämlich allerdings, daß der Heilige Geist manchmal während der Predigt an sein Herz geklopft habe und daß er es dann in jugendlichem Leichtsinn wieder vergessen habe. Aber Gott half ihm auf wunderbare Weise aus seiner Gewissensangst heraus. Als er einmal an seinen Sitz geht, findet er ein losgerissenes Blatt aus einem köstlichen Erbauungsbuch von M. Spangenberg. Und da ist gerade von der Sünde wider den Heiligen Geist die Rede; da steht, daß ein solcher, der diese Sünde begangen hätte, nicht Buße thun wollte bis an seinen Tod. So wurde er gerettet. Darum ist er auch ein so großer Theolog geworden, weil er in seiner Jugend schon so große Anfechtungen durchzumachen hatte. Noch schwerer ist es nun, Gesetz und Evangelium recht zu unterscheiden in der Privatseelsorge, wenn der Prediger die Einzelnen selbst vor sich hat. Auf der Kanzel kann er Verschiedenes sagen, und denken: „Das wird schon an die Herzen anklopfen.“ Aber wenn die Leute zu ihm als dem Pastor kommen, da ist es viel schwerer. Er muß bald merken: „Der ist ein Christ, und der nicht.“ Damit ist nicht gesagt, daß er sich nicht irren könne, wenn sich einer recht fromm stellt und ist doch ein Heuchler. Wenn er aber Gesetz und Evangelium recht unterscheiden kann, dann haben ihn vielleicht die Leute betrogen, aber der Prediger ist nicht schuld daran. Er ladet nur eine furchtbare Verantwortung auf sich, wenn er selbst schuld daran ist, daß die Leute ihn mißverstehen. Aber wenn sie sich recht christlich stellen, um mich zu betrügen, dann werde ich nicht betrogen, sondern die betreffende Person selbst. Da muß der Prediger einen als Christen behandeln, wenn er sieht: das ist einer, und umgekehrt. Aber die Unchristen sind nicht alle gleich. Der eine ist ein grober Religionsspötter und Bibelverächter, der andere ist orthodox, hat (S. 53) den todten Verstandesglauben, aber der Prediger merkt: „Du bist noch blind, du liegst noch im geistlichen Tode.“ Wer natürlich noch selbst in Sünden liegt, der weiß auch einen solchen nicht zu beurtheilen. Wenn ein Unchrist nun recht erschreckt und voll unbewußter Angst ist, weil er wer weiß was für Sünden begangen hat, er ist aber noch ungebrochen, da muß der Seelsorger merken: „Der muß erst gebrochen werden.“ Der eine ist lasterhaft, der andere selbstgerecht. Das ist eben die Schwierigkeit, diese verschiedenen Klassen von Unbekehrten zu entdecken und ihnen allemal das rechte Mittel zu geben. Sie sollen also davon überzeugt werden, daß allein durch den Heiligen Geist ein Prediger recht zugerichtet wird. Noch schwieriger ist es endlich, wahre Christen zu behandeln nach ihrem speciellen Seelenzustand. Dieser ist ein schwacher, jener ist ein starker Christ; der eine ist freudig, der andere traurig; der eine ist träge, der andere erglüht von Eifer; der eine hat wenig Erkenntniß, der andere ist tief gegründet in der Wahrheit. Und nun noch eins! Um einen Menschen recht zu beurtheilen und demgemäß zu behandeln, ist es für einen Prediger von der äußersten Wichtigkeit, die Temperamente zu kennen. Mein geistiges Auge muß sich durch die Temperamentsfehler die guten Eigenschaften nicht nehmen lassen. Z. B. wenn einer ein Sanguiniker ist, der ist immer gutes Muths und plagt sich nicht mit trüben Gedanken, und er kann doch vielleicht kein Christ sein, denn das ist ihm so angeboren. Wenn Sie nun dahinter kommen: „Das ist ein Sanguiniker“ und Sie predigen ihm das Gesetz und er wird traurig, so wissen Sie: „Das Wort hat gewirkt.“ Und wenn Sie ihm dann das Evangelium predigen, dann müssen Sie unterscheiden, ob das Natur bei ihm ist oder nicht, wenn er fröhlich wird. Oder wenn Sie bei einem Melancholiker sehen, daß er recht traurig ist und ein finsteres Gesicht macht, so dürfen Sie noch nicht gleich denken, daß er wegen seiner Sünden so traurig ist. Aber wenn er durch das Evangelium auf einmal lebendig wird und Sie nehmen dass Gegentheil von seinem Temperament wahr, dann können Sie gewiß sein: Das Evangelium hat bei ihm gewirkt. Oder Sie haben einen Phlegmatiker vor sich, der sich’s immer gerne recht gemüthlich macht und nicht in seinen Gedanken gestört sein will; wenn Sie den beruhigt haben, so denken Sie nicht gleich, daß Sie ihn durch das Evangelium beruhigt haben. Oder Sie haben einen Choleriker vor sich. Wenn der verzagt wird, so können Sie gewiß sein: „Das hat Gottes Wort gewirkt.“ (S. 54)