C. F. W. Walther (1811-1887):
Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.
Achte Abendvorlesung. (14. November 1884.)
Wäre die heilige Schrift wirklich ein so dunkles Buch, daß man den Sinn aller derjenigen Schriftstellen, in welchen Artikel des christlichen Glaubens gegründet sind, nicht mit Sicherheit erkennen könnte, müßte man daher eingestehen, daß ohne eine andere Autorität man nicht entscheiden könnte, welche etwa von zwei oder mehreren Auslegungen von Schriftstellen die einzig richtige sei, dann könnte die Schrift nicht Gottes Wort sein. Denn was wäre das für eine Offenbarung, die uns gerade über ihren wesentlichen Inhalt in dunkler Unwissenheit ließe? Insonderheit haben die alten jüdischen Schriftgelehrten des Mittelalters erklärt, der buchstäbliche Sinn wäre ja offenbar, aber es gebe einen geheimen Schriftsinn von der allerhöchsten Wichtigkeit, den könne man nicht erforschen, dazu bedürfe es einer Kabbala. Sie sagten, sowohl in dem ersten als in dem letzten Vers des hebräischen Textes käme der Buchstabe Aleph je sechsmal vor. Ein gewöhnlicher Mann könne nicht wissen, warum das so sei, aber die Kabbala gebe darüber Aufschluß. Es sei damit offenbart, daß die Welt sechstausend Jahre stehen werde. Es ist das ja ganz lächerlich, aber in der Christenheit selbst, im Pabstthum wird gelehrt, die Schrift sei so dunkel, daß man kaum einen Spruch der heiligen Schrift verstehen, oder doch, daß man sehr viele wichtige Lehren der christlichen Religion aus der Schrift nicht beweisen könne. Es sei dazu die Tradition schlechterdings nöthig. Es ist das aber eine große Blindheit! Denen gilt das Wort St. Pauli: „Ist nun unser Evangelium verdeckt, so ist es in denen, die verloren werden, verdeckt.“ 2 Cor. 4,3. Mit Recht sagt Luther in der Auslegung des 37. Psalms: „Es ist auf Erden kein klärer Buch geschrieben, denn die heilige Schrift; die ist gegen alle andern Bücher, gleichwie die Sonne gegen alle Lichter. Sie reden solch Ding nur darum, daß sie uns aus der Schrift führen und sich selbst zu Meistern über uns erheben, daß wir ihren Traumpredigten glauben sollen. Es ist eine greuliche, große Schmach und Laster wider die heilige Schrift und alle Christenheit, so man sagt, daß die heilige Schrift finster sei, und nicht so klar, daß sie jedermann möge verstehen, seinen Glauben zu lehren und zu beweisen.“ Und in seiner Schrift an die Rathsherren aller Städte Deutschlands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen, schreibt Luther (W. X, 551): „Die Sophisten haben gesagt, die Schrift sei finster; haben gemeint, Gottes Wort sei von Art so finster und rede so seltsam. Aber sie sehen nicht, daß aller Mangel liegt (S. 55) an den Sprachen, sonst wäre nichts Leichteres je geredt, denn Gottes Wort, so wir die Sprachen verstunden. Ein Türke muß mir wohl finster reden, welchen doch ein türkisch Kind von sieben Jahren wohl vernimmt, dieweil ich die Sprache nicht kenne.“ Luther hat vollkommen recht. Die heilige Schrift ist nicht nur ebenso klar wie die klarste menschliche Schrift, sondern sie ist noch viel klarer, denn sie ist gesetzt vom Heiligen Geist, dem Schöpfer der Sprachen. Daher ist es rein unmöglich, wenn man bei den Worten der Schrift bleibt, einen Irrthum oder gar einen Widerspruch aus der Schrift zu beweisen. Deshalb heißt es in jenem köstlichen Abendmahlsliede: „HErr JEsu Christ, du hast bereit’“: „Dein Wort steht wie ein Mauer fest, welch’s sich niemand verkehren läßt, er sei so klug er wolle.“ Aber obgleich der historisch-grammatische Sinn der Schrift von einem, der nur die Sprache versteht, wohl erschlossen werden kann, so kann doch kein Mensch, sei er nun ein noch so großer Sprachgelehrter, ein noch so berühmter Philologe, ein noch so scharfsinniger Logiker, die heilige Schrift zu seiner Seligkeit ohne den Heiligen Geist verstehen. Daher sagt der Apostel Paulus 1 Cor. 2,14.: „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes; es ist ihm eine Thorheit und kann es nicht erkennen, denn es muß geistlich gerichtet sein.“ Und 1 Cor. 1,23: „Wir aber predigen den gekreuzigten Christum, den Juden ein Aergerniß und den Griechen eine Thorheit.“ Damit aber ein Mensch die heilsame Erkenntniß der Schrift bekommt, ist vor allen Dingen nöthig die rechte Kenntniß vom Unterschied des Gesetzes und des Evangeliums. Wo diese Erkenntniß ist, da wird die ganze Schrift lichte; wo sie nicht ist, – diese Erkenntniß – da bleibt die ganze heilige Schrift ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch. – Ehe wir nun zur vierten Thesis fortschreiten, hören Sie noch ein paar Citate aus Luther. Wenn man die Predigten unerfahrener Prediger hört, so kann man vielleicht nicht sagen, sie haben das Gesetz verkehrt oder das Evangelium verkehrt, und doch muß man oft sagen, daß Gesetz und Evangelium in einander geflossen ist. Daß Gesetz und Evangelium recht zu scheiden die höchste Theologenkunst sei, bezeugt Luther in seinem Sermon vom Unterschied etc. (IX, 422): „Die Kunst ist gemein; bald ist es geredet, wie das Gesetz ein ander Wort und Lehre sei denn das Evangelium; aber practice zu unterscheiden und die Kunst ins Werk zu setzen, ist Mühe und Arbeit. St. Hieronymus hat auch viel davon geschrieben, aber wie ein Blinder von der Farbe.“ – Luther hatte den größten Respect vor den Gelehrten. Er sagte auch zu Erasmus: „Du bist ein theurer Mann“, weil er die Sprachen wieder aufgebracht hatte. Aber einen Doctor der heiligen Schrift nannte er ihn nicht. Warum nicht? Weil er diese (S. 56) Kunst nicht verstand. Und wenn einer bei der größten Begabung fünfzig Jahre lang sich vorbereiten würde auf das heilige Predigtamt, und er hätte den Heiligen Geist nicht empfangen, so würde er doch Gesetz und Evangelium nicht recht unterscheiden. Ja, das ist die Scylla und Charybdis. Auf beiden Seiten kann man den Seelen Untergang bereiten und sich schwer versündigen an den armen Christen. Zu Gal. 2,14. (VIII, 1788): „Welcher das Evangelium vom Gesetz wohl zu unterscheiden weiß, der danke unserm Herrgott und mag für einen Theologum wohl bestehen. Ich habe es zwar in meinen Anfechtungen so wohl noch nicht gewußt, als mir wohl vonnöthen gewesen wäre.“ – Ein einfacher Prediger kann ein ausgezeichneter Theolog sein, und ein anderer, der alle orientalischen Sprachen und wer weiß was alles studirt hat, verdient vielleicht den Namen noch nicht. Es kommt darauf an, ob Gott ihn dazu gemacht hat oder nicht. Du, der du sprichst: „Du gehst aber doch zu weit“, du bist noch blind! Du würdest, wenn du es erfahren hättest, gestehen, daß diese Kunst gar schwer ist.
Thesis IV.
Die rechte Erkenntniß von dem Unterschied des Gesetzes und des Evangelii ist nicht nur ein herrliches Licht zu rechtem Verstand der ganzen heiligen Schrift, sondern ohne jene Erkenntniß ist und bleibt auch dieselbe ein fest verschlossenes Buch.
Wenn wir die heilige Schrift durchblättern und wir wissen noch nicht den Unterschied des Gesetzes und des Evangeliums, so scheint es uns, als ob eine ganze Menge Widersprüche in der Schrift seien, ja als ob die ganze Schrift aus lauter Widersprüchen zusammengesetzt sei, mehr noch als der türkische Koran. Bald spricht sie einen selig, bald verdammt sie einen. Als der reiche Jüngling den HErrn fragte: „Was soll ich Gutes thun, daß ich das ewige Leben möge haben?“ da antwortet ihm der HErr: „Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote.“ Als der Kerkermeister zu Philippi an Paulus und Silas ganz dieselbe Frage richtet, da wird ihm geantwortet: „Glaube an den HErrn JEsum Christum, so wirst du und dein Haus selig.“ Einmal lesen wir Hab. 2,4.: „Der Gerechte wird seines Glaubens leben“, Johannes spricht 1 Joh. 3,7.: „Wer recht thut, der ist gerecht“, und der Apostel Paulus entgegnet: „Sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie an Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade, durch die Erlösung, so durch Christum JEsum geschehen ist.“ Einmal steht in der (S. 57) Schrift, Gott wolle die Sünder nicht; das andere Mal, wer immer den Namen des HErrn anrufen werde, der werde selig. Einmal ruft Paulus aus: „Gottes Zorn vom Himmel wird geoffenbaret über alles gottlose Wesen und Ungerechtigkeit der Menschen“, und der 5. Psalm sagt: „Du bist nicht ein Gott, dem gottlos Wesen gefällt, wer böse ist, bleibet nicht vor dir“; Petrus aber spricht: „Setzet eure Hoffnung ganz auf die Gnade.“ Einmal heißt es, daß Gottes Zorn über der ganzen Welt liege, und dann heißt es wieder: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Noch eine merkwürdige Stelle ist 1 Cor. 6,9-11. Da sagt der Apostel erst: „Weder die Hurer, noch die Abgöttischen, noch die Ehebrecher, noch die Weichlinge, noch die Knabenschänder, noch die Diebe, noch die Geizigen, noch die Trunkenbolde, noch die Lästerer, noch die Räuber, werden das Reich Gottes ererben.“ Und dann setzt er hinzu: „Und solche sind euer etliche gewesen, aber ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiliget, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des HErrn JEsu und durch den Geist unsers Gottes.“ Muß da nicht denjenigen, der nichts weiß von dem Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium, eine wahre Finsterniß umgeben, wenn er das alles liest? Muß er nicht denken: „Was? das soll Gottes Wort sein? Ein Buch mit solchen Widersprüchen?“ Dann steht es auch nicht so, als ob im Alten Testament ein zorniger, im Neuen Testament ein gnädiger Gott offenbart würde, als ob man im Alten Testament durch sein Thun und im Neuen Testament durch den Glauben selig würde, sondern wir finden beides sowohl im Alten wie im Neuen Testament. Aber sobald wir den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium kennen, dann geht die Sonne über der Schrift auf. Dann finden wir die allerschönste Harmonie in der Schrift. Wir sehen, daß das Gesetz nicht deswegen offenbart ist, als ob wir durch dasselbe gerecht werden könnten, sondern daß wir unsre Ohnmacht kennen lernen, daß wir sehen, was für schwache Menschen wir sind. Dann werden wir merken, was das Evangelium für eine süße Botschaft ist, was für eine herrliche Lehre es ist; dann nehmen wir das Evangelium mit tausend Freuden auf. Die Wichtigkeit der Erkenntniß dieses Unterschieds lehrt auch die Kirchengeschichte. Das Verderben in der Kirche trat ein mit der Vermischung von Gesetz und Evangelium. Lesen wir die Schriften der Kirchenväter, so merken wir bald, daß der Jammer seinen Grund darin hat: sie wußten Gesetz und Evangelium nicht recht zu scheiden. Wohl finden wir bis zum sechsten Jahrhundert noch herrliche Zeugnisse, aber dann merken wir auch, daß dieses Licht verlöscht, daß dieser Unterschied immer (S. 58) mehr vergessen wird. Das sehen wir auch aus dem mönchischen Leben, welches nun immer mehr Ansehen erlangte. Was der HErr jenem reichen Jüngling sagte, hielten sie wohl gar für nöthig zur Seligkeit. Welchen sie das Evangelium bringen sollten, denen brachten sie das Gesetz. Gehen wir dann vollends weiter in die Zeit der Herrschaft des Pabstthums, so ist da die Kenntniß dieses Unterschieds gänzlich erloschen; und damit tritt eine wahrhaft höllische Finsterniß ein, daß bares Heidenthum und Götzendienst in der Kirche Eingang fanden. Und wie ging es unserm lieben Luther! Er hatte zuerst schon wohl viel Erkenntniß, verglichen mit der damaligen Finsterniß, aber Gesetz und Evangelium wußte er nicht zu scheiden. Wie hat er sich abgequält und abgemartert! Er hat sich kasteit, hat gefastet, daß er sich beinahe den Tod dadurch zugezogen hätte. Das schwerste Wort, das Schrecklichste war ihm, daß im Evangelium die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, geoffenbart wird. „O“, dachte er, „ist das eine elende Sache! Das Gesetz fordert Erfüllung von einem, und nun soll man auch noch durch das Evangelium gerechtfertigt werden!“ Ja, er sagt selbst, er habe manchmal gotteslästerliche Gedanken gehabt. Dann auf einmal ging ihm das Licht auf, von was für einer Gerechtigkeit im Evangelium die Rede sei. Von dieser Zeit an, sagt er, habe er die ganze Schrift durchlaufen und habe angefangen, sich klar zu werden darüber: „Hier ist Gesetz, und da Evangelium“; in jedem Buch habe er nachgesehen, und so wäre es ihm überall klar geworden. Und in dem Augenblick, als Luther diesen Unterschied kennen lernte, wurde er zum Reformator geboren. Das war auch die Ursache, warum er einen so ungeheuren Erfolg hatte mit seinem Auftreten. Damit erlöste er das arme Volk aus seiner Noth, in die es getrieben worden war durch die Gesetzespredigt seiner Priester. Erkennen aber auch Sie hier selbst, wie wichtig dies eigentlich dann für Sie ist, wenn Sie nun Seelsorger sein werden. Wenn jemand zu Ihnen kommt und er ist in Angst und Noth, so ist die Ursache immer: das Gesetz hat bei diesem armen Menschen gewirkt und er denkt nicht daran, daß er durch das Evangelium selig werden kann. Daran denkt er nicht und klagt: „Ach, ich bin ein armer Sünder, der die Hölle verdient hat“ etc. Da sagen Sie ihm: „Freilich bist du ein verlorner, verdammter Mensch. Aber jene Stelle in der Schrift ist Gesetz. Nun gibt es aber noch eine andere Lehre. Das Gesetz hat sein Werk an dir verrichtet. Durch das Gesetz soll Erkenntniß der Sünde kommen. Nun verlasse Sinai und komm nach Golgatha! Siehe dort deinen Heiland für dich sterben und bluten.“ Ja, werden Sie ins Amt kommen, dann werden Sie erst erkennen, von was für einer hohen Bedeutung und Wichtigkeit der Unterschied des Gesetzes und Evangeliums ist und wie Sie (S. 59) die Kenntniß dieses Unterschiedes ganz allein tüchtig macht zur Führung des Amts, das die Welt selig machen soll. Das Allerwichtigste bleibt natürlich, daß Sie selbst diesen Unterschied an sich erfahren haben. Ich meine nicht die, welche noch nie Angst gehabt haben über ihre Sünden, die meinen, sie seien ja in christlichen Familien aufgewachsen und daher rechtgläubig, sondern diejenigen, welche Sorge tragen um ihre Seligkeit. Bald werden Sie meinen, Sie seien Gottes Kinder, bald werden Sie meinen, Ihre Sünden seien Ihnen nicht vergeben. Wollen Sie dann den rechten Frieden haben, so kann das nur geschehen durch die Erkenntniß des Unterschieds von Gesetz und Evangelium. In der Apologie der Augsburgischen Confession (Müller, S. 119) heißt es: „Denn Christi Wohlthat und den großen Schatz des Evangelii (welchen Paulus so hoch hebt) recht zu erkennen, müssen wir je auf einen Theil Gottes Verheißung und angebotene Gnade, auf dem andern Theil das Gesetz so weit von einander scheidest als Himmel und Erde.“ – Gottes Wort kann uns noch so tröstlich das Evangelium predigen; wenn wir nicht wissen, daß in Gottes Wort auch das Gesetz ist, dem wir entflohen sind, daß wir verlorene, verdammte Sünder sind und das Evangelium erfaßt haben, so werden wir den Frieden nicht erlangen können. Kommen wir an eine trostreiche Stelle, so denken wir: „Ja, ich habe doch Vergebung der Sünden“, und dann kommen wir an eine andere Stelle und werden uns wieder für verloren halten, wenn wir den Unterschied des Gesetzes und Evangeliums nicht kennen. Concordienformel, Epitome (Müller, S. 533f.): „Wir glauben, lehren und bekennen, daß der Unterschied des Gesetzes und Evangelii als ein besonder herrlich Licht mit großem Fleiß in der Kirche zu erhalten, dadurch das Wort Gottes nach der Vermahnung St. Pauli recht getheilt wird.“ Dasselbe wird wiederholt in der Declaratio des 5. Artikels (S. 633): „Nachdem der Unterschied des Gesetzes und Evangelii ein besonder herrlich Licht ist, welches dazu dient, daß Gottes Wort recht getheilet, und der heiligen Propheten und Apostel Schriften eigentlich erkläret und verstanden: ist mit besonderem Fleiß über demselben zu halten, damit diese zwo Lehren nicht mit einander vermischt oder aus dem Evangelio ein Gesetz gemacht, dadurch der Verdienst Christi verdunkelt, und die betrübten Gewissen ihres Trostes beraubet, den sie sonst in dem heiligen Evangelio haben, wenn dasselbige lauter und rein geprediget, und sich in ihren höchsten und schwersten Anfechtungen wider das Schrecken des Gesetzes aufhalten können.“ – Werden diese beiden Lehren nicht geschieden, so wird das Evangelium verfinstert und Christi Verdienst verdunkelt; denn wenn ich mich fürchte vor dem Drohen des Gesetzes, so habe (S. 60) ich Christum vergessen. Denn Christus sagt mir: „Und wenn deine Sünde gleich blutroth wäre, so soll sie doch schneeweiß werden. Wer mühselig ist und beladen, der komme nur, so wird er Ruhe finden für seine Seele.“ Das wird der Prediger nur recht verkündigen, wenn er einen unauslöschlichen Eindruck bekommen hat von dem Unterschied des Gesetzes und des Evangeliums. Nur der kann sich auch getrost auf das Sterbebett legen. Mag der Teufel ihm einflüstern, was er wolle, so sagt er zum Teufel: „Du hast ganz recht, aber ich habe noch eine andere Lehre, die sagt mir etwas ganz anderes. Und ich bin froh, daß mich das Gesetz so zugerichtet hat, denn nun schmeckt mir das Evangelium desto besser.“ Am Schluß des fünften Artikels der Concordienformel (S. 639) heißt es: „Auf daß beide Lehre, des Gesetzes und Evangelii, nicht in einander gemenget und vermischet, und der einen zugeschrieben werde, was der andern zugehöret. Dadurch dann leichtlich der Verdienst und die Gutthaten Christi verdunkelt, und das Evangelium wiederum zu einer Gesetzlehre gemacht, wie im Pabstthum geschehen, und also die Christen des rechten Trostes beraubet, den sie im Evangelio wider das Schrecken des Gesetzes haben, und dem Pabstthum wiederum die Thür in der Kirchen Gottes aufgethan werde: so muß mit allem Fleiß der wahre eigentliche Unterschied zwischen dem Gesetz und Evangelio getrieben und erhalten, und was zur Confusion inter legem et evangelium, das ist, dadurch die beide Lehren, Gesetz und Evangelium, verwirret und in eine Lehre gemenget, Ursach geben möchte, fleißig verhütet werden“ – In dieser großen Gefahr stehen wir auch. Man lese die Schriften derer, die die allerbesten sein wollen! Sie sind deswegen so scharf, weil sie Gesetz und Evangelium mit einander vermischen, so daß die Leute auf dem Sterbebette dem Zweifel unterworfen sind. Wie mancher wird denken: „Ich will sehen, ob mich Gott annehmen wird!“ Aber wer so ungewiß stirbt, stirbt nicht selig. Und wer ist daran schuld in vielen Fällen? Der Prediger. Er darf auch nicht sagen, das Gesetz sei aufgehoben, denn das ist nicht wahr, das Gesetz bleibt stehen, das Gesetz wird nicht aufgehoben. Aber wir haben eine andere Botschaft. Gott sagt nicht: „Durch das Gesetz kommt Gerechtigkeit“, sondern: „Durch das Gesetz kommt Erkenntniß der Sünde.“ Ja, im Römerbrief heißt es: „Dem, der an den glaubet, der die Gottlosen gerecht macht, wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit.“ Also gerade wenn ich einsehe, ich bin ein Gottloser, dann bin ich auf dem rechten Wege, auf dem Weg zur Seligkeit. Luther schreibt zu Gal. 3,19. (VIII, 2260): „Wo man das Evangelium nicht ganz eigentlich und klärlich vom Gesetze scheidet, ist’s nicht (S. 61) möglich, daß man die christliche Lehre sollte unverfälscht erhalten können; wiederum, wo man ihn aber recht und gewiß hat, so weiß man fein und richtig, was da sei die rechte Weise, wie und wodurch man vor Gott gerecht werden soll. Ist dies Licht und Erkenntniß vorhanden, kann man dann leichtlich den Glauben von den Werken scheiden, Christum von Mose, das Evangelium vom Gesetz Mosis und allen andern weltlichen Gesetzen, Rechten und Ordnungen.“ Chemnitz endlich schreibt in seinen Locis theologicis in dem Locus de justif. fol. 206: „Weil Paulus ausdrücklich sagt, daß ohne das Gesetz in dem Evangelium die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, geoffenbaret wird, darum ist die Hauptsache in dieser Frage (in der Frage von der Rechtfertigung), daß der wahre und klare Unterschied des Gesetzes und Evangeliums festgesetzt und mit Fleiß innegehalten werde. . . . Und welches andere Licht hat die so dichte Finsterniß des päbstlichen Reiches vertrieben, als gerade dies, daß man den wahren Unterschied des Gesetzes und Evangeliums gezeigt hat?“ – Kein anderes Licht hat die Finsterniß des Pabstthums vertrieben, als gerade dieses, daß der Unterschied des Gesetzes und Evangeliums hervortrat. Mächtige Kaiser unternahmen das Werk, große Concilien wollten versuchen zu reformiren, und was haben sie ausgerichtet? Nichts! Es wurde immer nur schlechter. Woher kommt es nun, daß der armselige Mönch es hinausführte? Ohne Zweifel daher, daß er diesen Leuchter wieder an die heilige Stätte setzte. Er hätte noch so evangelisch predigen können, die Christen wären nicht getröstet worden, denn wenn sie dann das Gesetz gefunden hätten, so hätten sie gedacht: „Ja, da habe ich mich doch geirrt! Ich muß doch die Gebote Gottes halten, wenn ich zum Leben eingehen will.“ Das fehlt denn auch den meisten. Huß hat das Evangelium vortrefflich gepredigt, aber er zeigte nicht den rechten Unterschied des Gesetzes und Evangeliums. Darum hatte sein Werk auch keinen rechten Bestand. Darum möge Gott, der uns dieses Licht angezündet hat, uns dieses Licht bewahren. Dabei denke ich vornehmlich an Sie! Wir Alten liegen bald in den Gräbern. Zu unserer Zeit hat das Licht wieder angefangen zu scheinen. Sorgen Sie dafür, daß dieses Licht nicht wieder verlösche. Und wenn Sie denken: „In ein paar Stunden habe ich das ja gefaßt“, dann sind Sie auf falschem Wege. Wenn dieses Licht nicht ängstlich bewahrt wird, dann ist es bald verloschen. So finden wir dies Licht nur noch brennen in den frühesten Schriften der Kirchenväter. Aber dann kommen andere Kirchenlehrer, in deren Schriften man nichts Gewisses mehr findet. Darum fand das Pabstthum nachher so schnellen Eingang. Dieselbe Gefahr droht aber auch uns. (S. 62) Die Hauptstelle aus der Schrift für unsere Thesis ist Röm. 10,2-4.: „Ich gebe ihnen das Zeugniß, daß sie eifern um Gott, aber mit Unverstand. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und trachten ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sind also der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht unterthan. Denn Christus ist des Gesetzes Ende, wer an den glaubt, der ist gerecht.“ Was meint hier also der Apostel mit dem Unverstand? „Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt.“ Das ist der Unverstand. Sie dachten, sie müßten für das Gesetz eifern, denn das sei ja ganz gewiß Gottes Gesetz; wie könne man davon abgehen? Hätten sie auf Pauli Predigt gemerkt, so hätten sie bald erkannt: „der läßt das Gesetz stehen“; dann wären sie nicht zu Feinden des Evangeliums geworden, und die schreckliche Finsterniß, die sie umnachtete, wäre zergangen.