Die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.
39 Abendvorträge von Dr. C. F. W. Walther.
Aus seinem Nachlaß.
St. Louis, Mo.
CONCORDIA PUBLISHING HOUSE.
1901.
Vorwort.
Vor vier Jahren erschienen in unserm Verlag zehn Abendvorlesungen, welche Dr. Walther im Jahre 1878 vor seinen Studenten gehalten hatte, unter dem Titel: „Gesetz und Evangelium. Von Dr. C. F. W. Walther. Aus seinem schriftlichen Nachlaß gesammelt.“ In dem vorliegenden Bande werden dem geneigten Leser neununddreißig Abendvorlesungen Dr. Walthers über die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium an der Hand von fünfundzwanzig Thesen dargeboten. Diese neununddreißig Vorlesungen sind in den Jahren 1884 und 1885 vom sel. Verfasser gehalten worden, und gehören also mit zu den letzten Arbeiten des gottbegnadeten Lehrers. Sie sind eine Erweiterung und Ergänzung der ersten über diesen Gegenstand gehaltenen Serie. Für den Druck sind sie vorbereitet worden durch Herrn Pastor Th. Claus in Elkhart, Ind., nach den von ihm während der Vorträge gemachten stenographischen Aufzeichnungen, und sind dann von Herrn Prof. L. Fürbringer, welcher ebenfalls die meisten Vorträge mit angehört und sich Notizen über dieselben gemacht hatte, durchgesehen worden. Auch lagen einige, wenngleich sehr kurze eigenhändige Aufzeichnungen Walthers vor. Walther ist in diesen Vorlesungen so gegeben, wie er geredet hat. Der Leser mag hierbei bedenken, daß man im Vortrag etwas freier und ungebundener redet, als man schreiben würde, und daß in einer solchen langen Reihe von zu verschiedenen Zeiten gehaltenen Vorträgen Wiederholungen vorkommen. Von seinen Abendvorlesungen pflegte der sel. Verfasser zu sagen, er verfolge damit den Zweck, „seinen Studenten die Lehren (S. IV) der heiligen Schrift ins Herz hinein zu reden“. „Je und je“, sagt er davon in der dreiunddreißigsten dieser Vorlesungen, „habe ich es für meine heilige Pflicht gehalten, nicht nur die reine Lehre vorzutragen, nach der Gnade, die mir gegeben ist, in den Vorlesungen über Dogmatik, sondern ich habe es auch für nöthig gehalten, wenigstens einmal in der Woche die ganze liebe Concordia um mich zu versammeln, um ihr dann die Wichtigkeit jener Lehren, ihre Bedeutung und ihre praktische Anwendung zu zeigen, und dann vor allen Dingen, Ihnen auch ein brünstiges Herz für Ihren schweren Beruf zu machen. Wir nennen diese Freitagsabendstunden, welche gleichsam den Abschluß des wöchentlichen Unterrichts bilden, „Lutherstunden“, vor allen Dingen darum, weil ich in denselben vor allen andern besonders unsern lieben Vater Luther, den von Gott ausersehenen Reformator der Kirche und unsern gemeinsamen Lehrer, reden lasse. Und Gott hat bisher auch die Gnade gegeben, daß meine lieben Studenten gerne diese Abendstunde besucht haben; daß sie, wie mir mancher hoch und theuer versichert hat, darin reich gesegnet worden sind; nicht nur, daß sie klarer geworden sind in der Erkenntnis der christlichen Lehre, sondern daß sie auch fester geworden sind in ihrem Glauben an die Vergebung der Sünden, ihre Kindschaft bei Gott, und ihre Seligkeit.“ Ueberaus viel muß dem sel. Verfasser daran gelegen haben, „noch einmal, und zwar recht ausführlich, über den hochwichtigen Gegenstand von der rechten Unterscheidung von Gesetz und Evangelium vor seinen Studenten zu reden. Er sagt in der sechzehnten Vorlesung: „Bald werde ich vor Gottes Thron stehen und Rechenschaft ablegen müssen für die vielen theuren Seelen, denen einst Tausende anvertraut werden sollen. Gott wird mich dann fragen: Hast du gethan, was deines Amtes war?“ An die treue Ausrichtung dieses seines Amtes hat er die letzte Kraft gewendet, um künftige Pastoren einzuführen in die schwierigste und höchste Christen- und Theologenkunst, die rechte Unterscheidung von Gesetz (S. V) und Evangelium Darauf hat er bei seiner vielen Arbeit den höchsten Fleiß verwendet, sie, so viel an ihm lag, recht tüchtig zu machen in diesem nicht bloß für die öffentliche Predigt, sondern gerade auch für die rechte Behandlung der einzelnen Seelen so überaus nöthigen Stück, zu rechter gesegneter Führung des Amtes. Das hat er in reichem Maße in den hier gebotenen Vorträgen gethan. Auf der einen Seite tritt in denselben so klar und scharf hervor, wie niemand diese Kunst völlig bemeistern, wie auch ein sehr begabter, treuer und gewissenhafter Pastor gar leicht abirren kann, zum größten Schaden ihm anvertrauter Seelen, und dringen so dazu, mit Furcht und Zittern unter Gebet und Flehen täglich beim Heiligen Geist in die Schule zu gehen und diese Kunst an sich selber zu üben. Auf der andern Seite aber zeigen sie so meisterlich, welch eine herrliche, köstliche, selige Beschäftigung es ist, ein Mitarbeiter Gottes zu sein, einem Sünder zu helfen, daß er sein Heil erkennen lerne und seiner Seligkeit gewiß werde, und erfüllen mit herzinniger Freude darüber, Gottes Werkzeug sein zu dürfen. Ein jeder Christ kann hier lernen, wie überaus schwer und verantwortungsvoll das Amt eines rechtschaffenen Predigers ist, und wie dankbar diejenigen sein sollten, denen Gott treue Lehrer und Prediger gibt. Wie reich sind doch diese Vorträge überhaupt an Lehre, Mahnung, Warnung, Strafe und köstlich süßem Trost! Wolle der HErr der Kirche zum Lesen und Gebrauch dieses Buches seinen reichen Segen geben, zum Heile vieler, mit Christi Blut theuer erkaufter Seelen!
Im Auftrag des Directoriums des Concordia Publishing House
St. Louis, den 22. Januar 1897.
C. L. Janzow
Gesetz und Evangelium.
Thesis I.
Der Lehrgehalt der ganzen heiligen Schrift, sowohl des Alten als des Neuen Testaments, besteht aus zwei von einander grundverschiedenen Lehren, nämlich dem Gesetz und dem Evangelio.
Thesis II.
Ein reiner Lehrer ist nur derjenige, welcher nicht nur alle Artikel des Glaubens schriftgemäß darlegt, sondern auch Gesetz und Evangelium recht von einander unterscheidet.
Thesis III.
Gesetz und Evangelium recht zu unterscheiden, ist die schwierigste und höchste Christen- und Theologen-Kunst, die allein der Heilige Geist in der Schule der Erfahrung lehrt.
Thesis IV.
Die rechte Erkenntniß von dem Unterschied des Gesetzes und Evangelii ist nicht nur ein herrliches Licht zu rechtem Verstand der ganzen heiligen Schrift, sondern ohne jene Erkenntniß ist und bleibt auch dieselbe ein fest verschlossenes Buch.
Thesis V.
Die erste und zwar die offenbarste und gröbste Art und Weise der Vermischung von Gesetz und Evangelium ist, wenn man, wie die Papisten, Socinianer und Rationalisten thun, Christum zu einem neuen Moses oder Gesetzgeber und so das Evangelium zu einer Werklehre macht, hingegen, wie die Papisten, die verdammt und verflucht, welche das Evangelium als eine Botschaft freier Gnade Gottes in Christo lehren. (S. 2)
Thesis VI.
Gottes Wort wird zweitens nicht recht getheilt, wenn man das Gesetz nicht in seiner ganzen Strenge, das Evangelium nicht in seiner vollen Süßigkeit predigt, sondern in das Gesetz Evangelisches und in das Evangelium Gesetzliches mengt.
Thesis VII.
Gottes Wort wird drittens nicht recht getheilt, wenn man erst das Evangelium und dann das Gesetz predigt, erst die Heiligung und dann die Rechtfertigung, erst den Glauben und dann die Buße, erst die guten Werke und dann die Gnade.
Thesis VIII.
Gottes Wort wird viertens nicht recht getheilt, wenn man das Gesetz den schon über ihre Sünden Erschrockenen oder das Evangelium den in Sünden Sicheren verkündigt.
Thesis IX.
Gottes Wort wird fünftens nicht recht getheilt, wenn man die vom Gesetz getroffenen und erschreckten Sünder, anstatt sie auf Wort und Sacrament zu weisen, anweist, durch Beten und Kämpfen sich den Gnadenstand zu erringen, nämlich so lange zu beten und zu kämpfen, bis sie fühlen, daß sie Gott begnadigt habe.
Thesis X.
Gottes Wort wird sechstens nicht recht getheilt, wenn man vom Glauben entweder so predigt, als ob das todte Fürwahrhalten selbst trotz Todsünden vor Gott gerecht und selig mache, oder also, als ob der Glaube um der Liebe und Erneuerung willen, die er wirkt, rechtfertige und selig mache. Thesis XI. Gottes Wort wird siebentens nicht recht getheilt, wenn man nur diejenigen mit dem Evangelium trösten will, welche durch das Gesetz Reue haben nicht aus Furcht vor Gottes Zorn und Strafe, sondern aus Liebe zu Gott. (S. 3)
Thesis XII.
Das Wort Gottes wird achtens nicht recht getheilt, wenn man also lehrt, als ob die Reue neben dem Glauben eine Ursache der Sündenvergebung sei.
Thesis XIII.
Gottes Wort wird neuntens nicht recht getheilt, wenn man den Glauben so fordert, als könne der Mensch sich denselben selbst geben oder doch dazu mitwirken, anstatt denselben durch Vorlegung der evangelischen Verheißungen selbst in das Herz hineinzupredigen zu suchen.
Thesis XIV.
Gottes Wort wird zehntens nicht recht getheilt, wenn man den Glauben fordert als eine Bedingung der Rechtfertigung und Seligkeit, als ob der Mensch nicht allein durch, sondern auch wegen des Glaubens, um des Glaubens willen und in Ansehung des Glaubens vor Gott gerecht und selig werde.
Thesis XV.
Gottes Wort wird elftens nicht recht getheilt, wenn man das Evangelium zu einer Bußpredigt macht.
Thesis XVI.
Gottes Wort wird zwölftens nicht recht getheilt, wenn man so predigt, als ob schon die Ablegung gewisser Laster und die Ausübung gewisser Werke und Tugenden eine wahre Bekehrung sei.
Thesis XVII.
Gottes Wort wird dreizehntens nicht recht getheilt, wenn man die Gläubigen so beschreibt, wie sie nicht alle und nicht immer sind, sowohl was Stärke des Glaubens, als was das Gefühl und die Fruchtbarkeit desselben betrifft.
Thesis XVIII.
Gottes Wort wird vierzehntens nicht recht getheilt, wenn man das allgemeine Verderben der Menschen so beschreibt, als ob auch die wahrhaft Gläubigen in herrschenden und muthwilligen Sünden lebten. (S. 4)
Thesis XIX.
Das Wort Gottes wird fünfzehntens nicht recht getheilt, wenn man so predigt, als ob gewisse Sünden schon an sich nicht verdammlich, sondern an sich läßlich seien.
Thesis XX.
Das Wort Gottes wird sechzehntens nicht recht getheilt, wenn man die Seligkeit an die Gemeinschaft mit der sichtbaren rechtgläubigen Kirche bindet und jedem in irgend einem Glaubensartikel Irrenden die Seligkeit abspricht.
Thesis XXI.
Das Wort Gottes wird siebzehntens nicht recht getheilt, wenn man lehrt, daß die Sacramente ex opere operato heilskräftig wirken.
Thesis XXII.
Das Wort Gottes wird achtzehntens nicht recht getheilt, wenn man zwischen Erweckung und Bekehrung einen falschen Unterschied macht, und nicht glauben können mit nicht glauben dürfen verwechselt.
Thesis XXIII.
Das Wort Gottes wird neunzehntens nicht recht getheilt, wenn man die Unwiedergebornen durch die Forderungen oder Drohungen oder Verheißungen des Gesetzes zur Ablegung der Sünden und zu guten Werken zu bewegen, und also fromm zu machen, die Wiedergebornen aber, anstatt sie evangelisch zu ermahnen, durch gesetzliches Gebieten zum Guten zu nöthigen sucht.
Thesis XXIV.
Das Wort Gottes wird zwanzigstens nicht recht getheilt, wenn man die unvergebliche Sünde in den Heiligen Geist so beschreibt, als ob dieselbe wegen ihrer Größe unvergeblich sei.
Thesis XXV.
Das Wort Gottes wird einundzwanzigstens nicht recht getheilt, wenn man in seiner Lehre nicht das Evangelium im Allgemeinen vorherrschen läßt. (S. 5)